jens könig über schröder
: Die Brille der Bundesrepublik

Wer Kanzler werden will, braucht nicht irgendeine, sondern eine politisch erfolgreiche Brille: dünn und dynamisch

Wer kennt nicht dieses Gefühl? Man hat viel zu sagen, Wichtiges, Bedeutendes, etwas, von dem man glaubt, die überhitzte Berliner Republik könne ohne diese wegweisenden Worte nicht einen Tag länger existieren, und dann das: Plötzlich überfällt einen die Ahnung, dass die Worte sich selbst nicht genügen. Dass man das, was man erklären möchte, gar nicht erklären kann. Man würde viel lieber auf ein Bild zeigen und sagen: Vergiss meine Worte, das da ist es, was ich meine, dieses Bild trifft es viel besser.

Zum Glück erscheint diese Kolumne in einer Zeitung, die mit dem Medium Bild seit geraumer Zeit arbeitet. Also erkläre ich zunächst gar nichts. Was ich meine, sieht so aus. (Nehmen Sie sich ruhig ein paar Minuten Zeit für eine entspannte Betrachtung. Ich warte so lange.)

Was sagt uns dieses Bild? Zunächst einmal, dass sich Journalisten gern in der Nähe von Mächtigen rumdrücken. Der Abstand zwischen Kohl und mir beträgt nur schlappe 25 Zeilen. Außerdem ist dieses Kohl-Foto die größtmögliche Provokation in einer Kolumne, die den Namen „Schröder“ trägt. Und sonst?

Dieser Helmut Kohl konnte nicht Kanzler bleiben. Keinen Tag länger. Sehen Sie in sein Gesicht. Genau. Die Brille. Eine politische Katastrophe. Schlimmer als fünf Millionen Arbeitslose.

Am deutlichsten erkannt hat diese Schwachstelle Konrad R. Müller. Müller, der Meisterfotograf, der Kohls Gesicht kennt wie kein Zweiter, redete jahrelang auf den Bundeskanzler ein, doch nicht mehr diese scheußliche Brille zu tragen. Irgendwann hatte er Kohl so weit. Und was kam raus? Sehen Sie selbst.

Ein durchaus sympathischer Herr Anfang sechzig. Müller schwärmte von Kohls bernsteinfarbenen Augen, er fand es toll, wie sie in dessen Gesicht standen, endlich befreit von dieser Brille. Und dann diese Stirn, Falten wie Striche, quer und senkrecht. Wie ein Schachbrett, meinte Müller. Eines dieser legendären Fotos von Kohl ohne Brille machte die CDU 1994 zu ihrem zentralen Wahlplakat. Darauf zu sehen war nur Kohl. Brillenlos. Weich. Sympathisch. Kein Name war auf dem Plakat, kein Slogan. Nur dieses Foto, auf dem lediglich rechts unten in kleinen Buchstaben CDU stand.

Und was passierte in jenem Jahr? Kohl gewann die Bundestagswahlen. Zum letzten Mal. Vier Jahre später ging er wieder mit Brille in den Wahlkampf – und verlor. Zwangsläufig, brillentechnisch gesehen.

Wir alle kennen die wegweisende These der Optikerindustrie, wonach zwischen Brille und Persönlichkeit ein Zusammenhang besteht. Bei Kohl greift das zu kurz. Seine Kassenbrille stand 16 Jahre lang für das ganze Land: groß, klobig, unbeweglich. Karl Heinz Bohrer, der sein Grauen vor dem Phänotyp Kohl in einem legendären Essay beschrieb, hatte Unrecht: Kohl war nicht der Körper der Bundesrepublik. Er war die Brille Deutschlands.

Kohls Brille war längst aus dem Status des rein Dinglichen getreten. Sie hatte eine symbolische Qualität angenommen. Sie stand für den Sieg des Ewiggleichen. In ihr drückte sich die Unfähigkeit einer ganzen Gesellschaft aus, überkommene Glaubensinhalte infrage zu stellen.

Okay, okay, werden Sie jetzt sagen, klingt alles gut, ist doch aber völliger Unfug. Irrtum. In dem Handbuch „Der moderne Medienwahlkampf“, das soeben im Media Plus Verlag erschienen ist, beschäftigt sich ein ganzes Kapitel mit der Bedeutung der Brille für die Wirkung eines Politikers in der Öffentlichkeit. Der Brillenexperte Jürgen Hopf analysiert die Eigenschaften, die eine Brille haben sollte, wenn man auf politischen Erfolg aus ist. Und wenn man keine Brille trägt, werden Sie jetzt fragen? Dann ist man Kanzler. Aber auch der beste Kanzler braucht mal eine Brille. Gerhard Schröder zum Beispiel, wenn er Akten liest. Also fast nie. Aber immerhin. Das Foto rechts oben ist der Beweis.

Nach Ansicht von Experte Hopf ist, verkürzt gesagt, eine Brille dann politisch erfolgreich, wenn sie dünne oder unsichtbare Ränder hat. Dann wirkt das Gesicht des Trägers auf dem Fernsehschirm nicht zerschnitten. Die Brillengläser sollten aus Kunststoff sein, am besten aus dem Gießharz CR 39. Und die Brille sollte einen hohen Tragekomfort garantieren, vor allem eine rutschfeste und druckfreie Nasenauflage haben sowie eine richtig dosierte Andruckstärke der Bügel. So, jetzt entscheiden Sie selbst, ob Schröder mit seiner Brille noch was werden kann.

Und dieser Herr hier?

Die erfolgreiche Brille schlechthin. Dynamisches Design, hoher CR-39-Faktor, Ia-Kameratauglichkeit. Die Brille des 21. Jahrhunderts. Sie symbolisiert Stärke und Bescheidenheit. Ist 2002 schon entschieden?