Der Gentext-Virtuose

Füchse zähmen, Welt verbessern, Geheimgesellschaften des guten Lebens gründen: Der Schriftsteller Thor Kunkel schreibt Zukunfts-Roman aus dem Frankfurter Elend und Neid-Thriller aus Hawaii

von VOLKER WEIDERMANN

„Wir müssen wieder wildes Denken lernen.“ Thor Kunkel rauft sich die Haare. „Früher waren es mal die Schriftsteller, die groß und grenzenlos und fantasiereich dachten. Heute sind es die Naturwissenschaftler – und die Dichter schauen zu.“ Thor Kunkel will mitfantasieren, will die Möglichkeiten der Computertechnologien, des Cyberspace, der Biowissenschaften, der Chemie und der Genetik in seinen Romanen thematisieren, ja, sie zum Zentrum des Schreibens und des Denkens machen. Wie im „Schwarzlicht-Terrarium“, seinem 640-seitigen Erstling, für den er in Klagenfurt mit dem Ernst-Willner-Preis ausgezeichnet wurde und in dem er vor dem Hintergrund des traurigsten Stadtteils im Frankfurt der 70er-Jahre, dem so genannten Kamerun, Lebensveränderungsträume mit den Mitteln der Chemie und den Mitteln der Technik erträumte und erdachte.

Er selbst ist in diesem Kamerun aufgewachsen, studierte dann Bildende Kunst und Creative Script Writing in Frankfurt und San Francisco, beschäftigte sich aber schon damals eher mit Naturwissenschaften und Computertechnik, erstellte biomechanische Drucke von Insekten und Fantasielebewesen und machte Video-Performances, während die Kommilitonen kreative Manuskripte erdachten. Seine erste Sammlung mit Erzählungen hatte er schon mit 16 Jahren an den Suhrkamp-Verlag geschickt. Die Antwort kam schnell: „Zur Veröffentlichung nicht geeignet.“ Immerhin. Das Manuskript vom „Schwarzlicht-Terrarium“, das er an über 20 Verlage geschickt hatte, wollten ihm manche nicht einmal zurücksenden. „Es sei denn, Sie übernehmen das Porto“, meinte etwa der Herr von der Frankfurter Verlagsanstalt. Rowohlt nahm es schließlich, mit sanfter Nachhilfe der Agentin Karin Graf, an. Nach dem Auftritt in Klagenfurt wollten es dann plötzlich alle haben.

Lebensrettungsfantasien

Es ist ein kleines, wunderbares Universum der technischen Weltverbesserungsmöglichkeiten, die Geschichte einer Versagergang im Frankfurt des ausklingenden Disco-Zeitalters, die ihre großen Lebensrettungsfantasien in chemischen Präparaten, biologischen Weltsichten oder Ausflügen ins Weltall suchen. Aber nicht finden. Stattdessen Musik hören. Disco. „Born to Be Alive“. „Wegen der Aussage.“ Doch Frankfurt, Disco, 70er-Jahre sind nur die Folie, hinter der sich eine viel modernere Weltsicht, ein technisierter Blick auf das Leben verbirgt. Ein 90er-Jahre-Roman im Grunde.

„Die 90er waren ein großartiges Jahrzehnt, mein Erweckungsjahrzehnt“, sagt Kunkel. Die 80er-Jahre habe er in einer Art Tiefschlaf verbracht, beendete sein Studium, arbeitete fünf Jahre in London in der Werbebranche und langweilte sich. Schlechte Musik, schlechte Filme, Stillstand. „Wie wenn ein Film hängengeblieben wäre, lange, lange Zeit.“ Doch dann kamen die 90er. „Das Jahrzehnt der Naturwissenschaften“, wie er sagt. Ein wunderbares Jahrzehnt.

Es war eine Dokumentation im Fernsehen, die ihm bewusst machte, dass etwas Neues passiert: Es war ein Film über eine russische Forscherin, die den einen Fuchs des totalen Friedens gezüchtet hatte. Mithilfe radikaler Auslese. Aus einem großen Wurf Füchse wurde stets derjenige aussortiert, der auch nur ein leises Anzeichen der Aggression zeigte. Die Füchse erlernten absolute Friedfertigkeit, und am Ende blieb also nur der sanftmütigste Friedensfuchs übrig. Man könnte das einen widernatürlichen Albtraum nennen. Für Kunkel ist das ein Traum. „Das war so toll. Der totale Friede.“ Und wenn er sich die Zukunft vorstellt, dann wäre eines seiner Wunschprojekte zum Beispiel, einen Zoo zu schaffen, in dem nur Tiere des völligen Friedens zu Hause wären.

Politik verändert nichts

Kunkel glaubt, dass die Welt mit Hilfe der Naturwissenschaften zu verbessern ist. Auch deshalb waren die 80er-Jahre nicht sein Jahrzehnt. Ein Jahrzehnt der Politik. Die verändert nichts. Computertechnik, Biologie verändert alles. Er ist fasziniert von einem US-amerikanischen Experiment, in dem straffälligen amerikanischen Jugendlichen ein ihnen offenbar fehlender Botenstoff ins Blut injiziert wurde und die nun, nach der Therapie, abends friedlich zu Hause sitzen und sagen: „Ich hatte eigentlich auch früher keine Lust, nachts auf die Straße zu gehen und irgendwo einzubrechen. Ich fühlte mich einfach nur unwohl. Jetzt sitz ich zu Hause, und mir geht’s gut“.

In seinen Büchern zititert Kunkel gern Pessimisten, Lebensverächter, Abgrunddenker. Cioran, Céline, Schopenhauer. „Das Leben! Kombination von Chemie und Bestürzung ...“ Er liebt an ihnen: „Diese Klarheit! Dieses Hindurchsehen durch alle Illusionsschleier, die über allem liegen.“ Sein Lieblingsstück ist „Dantons Tod“. Das schaut er überall und immer wieder in jeder Inszenierung an. Im wirklichen Leben träumt er von kleinen Paradiesen. „Subsysteme des besseren Lebens“, wie er sie nennt. Und er meint kleine Gemeinschaften, die sich auf der Basis gemeinsamer Werte und Normen von der Welt abtrennen und für sich leben. Er kennt eine Gruppe deutscher Architekten, die sich in ein italienisches Bergdorf zurückgezogen haben und dort umzäunt und von Kameras bewacht ihr kleines Gemeinschaftsleben leben. Glücklich, wie er meint.

„Die Zeit der Privatgesellschaften ist angebrochen“, sagt er. Vorbild sind ihm dafür die Community-Sites im Internet. Geheimgesellschaften mit eigener Sprache, gemeinsamen Interessen, gemeinsamer Lebensgrundlage. Für solche Sites entwirft Kunkel in Amsterdam, wo er seit zehn Jahren lebt, Konzepte. Im Auftrag einer Multimedia-Agentur für Sony oder für Henkel, für Hausfrauen oder Computerfreaks. Er denkt sich in den erwünschten Kundenkreis hinein und ersinnt Angebote, die so viele wie möglich so oft wie möglich auf die Seite locken. Das sieht dann meist eher prosaisch aus, so mit multifunktionalem Haushaltswochenplan auf der Henkel-Seite oder Variationsideen für den neuen Vaio-Computer von Sony auf der Club-Vaio-Site, die Kunkel gerade entwirft. Aber es sind doch Ausgangspunkte dessen, was er „künstliches Paradies“ und „ein Zufluchtsort in der Welt“ nennt.

In seinem neuen Buch „Ein Brief an Hanny Porter“ beschreibt Thor Kunkel ein solches künstliches Paradies. Auf Hawaii. Eine abgeschottete Siedlung der Schönen und Reichen. In dem Roman wird sie zum Albtraum. Zwei arme, alte, kranke Besucher, die eine Woche Urlaub in dieser Siedlung in einem Preisausschreiben gewonnen haben, rächen sich, als sie die Insel wieder verlassen sollen, an der Welt, aus der sie ein Leben lang ausgeschlossen waren. Harmlos zunächst, freundlich fast und von Seite zu Seite brutaler und hinterhältiger. Ein guter Psycho-Krimi. Ganz anders, schneller, glatter als das „Schwarzlicht-Terrarium“, nicht so verschachtelt und verspielt.

Ungerechtigkeit studiert

Aber die Ungerechtigkeit, die Armut und das Geld waren auch damals schon zentrale Themen, neben Biofantasien und Chemie: „Vom Standpunkt der Armen aus, ist der Tod keine Erlösung“, heißt es im „Schwarzlicht-Terrarium“. „Er ist die ultimative Bestrafung, die höhnische Quittung das Leben verpasst zu haben.“ Und in „Hanny Porter“ sagt das reiche Opfer Richard zum verarmten, greisen Marv, der ihn als Geisel hält: „Das klingt, als ob Sie das studiert hätten. Ungerechtigkeit meine ich.“

Doch was man ein Leben lang am eigenen Leib erfahren hat, braucht man nicht zu studieren. Kunkel ist das wichtig. „Ich habe ein Sendungsbewusstsein, das darüber hinausgeht, mich egomanisch selbst zu präsentieren“, sagt er mit Blick auf die Literatur, die er wie nebenbei als „Popscheiß“ abtut. Deshalb zieht er jetzt nach Berlin. Wo die Literatur lebt. Die Literaten. „Konkurrenz belebt das Geschäft.“ Sein nächster Roman ist auch schon bald fertig. Er wird „Die Endstufe“ heißen, und Schauplatz der Geschichte sind die Blutbahnen von Liebenden.

Und für das Schreiben der Zukunft hat er noch ganz andere Ideen. Von den zahlreichen Internet-Literaturprojekten hält er wenig. Dafür träumt er vom Schriftsteller, der mit Genen schreibt: „Du kannst deine Romanfigur auf einer Eins-zu-eins-Skala programmieren, und der Zuschauer kann in den Roman hineinlaufen mit echten Personen, die man anfassen könnte. Ich gebe das Szenario vor, die Umgebung und die genetische Grundausstattung der Figuren, und der Zuschauer lässt sie in Interaktion treten, aktiviert und deaktiviert die Gene der Protagonisten nach Wunsch. Und ich“, sagt Kunkel mit einem Lächeln, „wäre dann kein Schriftsteller mehr. Ich wäre ein genetischer Virtuose.“

Bücher von Thor Kunkel: „Das Schwarzlicht-Terrarium“. Rowohlt Paperback 2000, 640 Seiten, 28 DM„Ein Brief an Hanny Porter“. Rowohlt Paperback 2001, 170 Seiten, 23 DM