Wo Technik aufhört, beginnt Politik

Die Bertelsmann Stiftung zieht eine erste Zwischenbilanz über die Arbeit der „Internet Corporation for Assigned Namesand Numbers“: Die Onlinewahlen sind gescheitert, das Geschäft mit den Top-Level Domains läuft trotzdem wie geschmiert

von NIKLAUS HABLÜTZEL

„Wer regiert das Internet?“ Diese Frage stand über einem hochkarätig besetzten Symposium, das die Bertelsmann und die Friedrich-Ebert-Stiftung vergangenen Freitag in Berlin abhielten. Die kürzeste Antwort darauf gab Detlef Eckert, Leiter der Grundsatzabteilung Informationsgesellschaft bei der Europäischen Union: „Cisco.“ Das ist der Name der Firma, ohne deren Hardware heute kaum ein Netzknoten auskommt. Das Internet ist ein technisches System, die einzigen Regeln, denen es zwingend unterliegt, sind technische Standards, für deren Entwicklung in der Tat eine Firma wie Cisco Entscheidendes geleistet hat. Die Router, für die sie führend auf dem Weltmarkt ist, müssen funktionieren.

Eckerts Antwort war daher als Provokation gedacht, tatsächlich aber traf sie ins Zentrum der Fragestellung. Denn gerade die Fachleute, die angereist waren, sind sich einig, dass es eigentlich keine Regierung des Internets geben darf. Nun gibt es sie doch, sie heißt „Internet Corporation for Assigned Names and Numbers“ (Icann) und ist 1998 mit einer Empfehlung des US-amerikanischen Handelsministeriums ins Leben gerufen worden. Seither rätseln Politiker, Techniker, Manager und Internetnutzer, was denn nun die Aufgaben dieser Organisation seien. Laut ihrem Gründungsdokument soll sie die Oberaufsicht über das einst dem Pentagon gehörende Netzwerk einem nichtstaatlichen und auch von wirtschaftlichen Einzelinteressen unabhängigen Gremium übertragen.

Der Streit beginnt schon mit der Frage, welche Aufgaben überhaupt einer solchen Oberaufsicht bedürfen, und endet mit schöner Regelmäßigkeit mit der Forderung nach einer besseren Legitimation ihrer Mitglieder. Wo hört die Technik auf, wo beginnt die Politik und wo die Wirtschaft? Auch der Berliner Kongress konnte die verwirrenden Probleme dieser Abgrenzungen nicht aufklären. Immerhin legte die Bertelsmann Stiftung, die sich sehr früh für das Konzept der Icann eingesetzt hat, eine fundierte Zwischenbilanz vor. Im Auftrag der Stiftung hatte eine Arbeitsgruppe der Harvard-Universität eine Fallstudie zu Entstehung, Praxis und Wirkung der Icann durchgeführt. Das Dokument ist lesenswert und eine wahre Fundgrube für künftige Historiker des Internets wie der amerikanischen Innenpolitik.

John D. Donahue, Dozent an der John F. Kennedy School of Gouvernment an der Harvard University, trug die Ergebnisse vor, und eine weitere Arbeitsgruppe aus Akademikern, Netzmanagern und Userlobbyisten bemühte sich, Empfehlungen für die Zukunft abzuleiten. Ihr größtes Verdienst besteht aber vor allem darin, die Schlagworte zu ordnen, die nun schon seit langem vergeblich auf einen präzisen Inhalt warten. Den Empfehlungen der Bertelsmann Stiftung gemäß sollte das Internet etwa „kompatible Schnittstellen“ enthalten, der Zugang sollte „diskriminierungsfrei“ sein, Daten sollten sowohl sicher als auch anonym übertragen werden, Inhalte vertrauenswürdig und an verbindlichen Qualitätsstandards messbar sein.

Niemand wird die Wünschbarkeit solcher Eigenschaften eines weltweiten und daher nur global regelbaren Mediums bezweifeln. Aber ebenso wenig kann heute jemand präzise sagen, welche Institutionen mit der Durchsetzung dieser Maßstäbe betraut werden sollten, noch auch, ob ausgerechnet die Icann geeignet ist, in diesem Sinne das Internet wenigstens zu regeln, wenn schon nicht zu regieren. Denn trotz gewisser Erfolge spricht nicht viel für diese Annahme. Vor allem der Versuch, einen Teil des Direktoriums mit Vertretern einer imaginären Nutzergmeinschaft zu besetzen, die ihre Legitimation freien und geheimen, online durchgeführten Wahlen verdanken.

Das Experiment endete in einem Fiasko, wie auch überzeugte Icann-Befürworter zugeben müssen. Andy Müller Maguhn, Sprecher des Chaos Computer Clubs und selbst einer der fünf „At-Large-Direktoren“ der Icann, bot der Konferenz den schönen Begriff der „Legitimationssimulation“ an. Der Gießener Politologe Klaus Leggewie jedoch warnte davor, auch nur den Umstand, dass die Icann-Wahlen überhaupt stattfanden, als Teilerfolg zu betrachten. Ihr Ergebnis diskreditiert das Verfahren selbst, und Leggewie rät dringend davon ab, einen zweiten Versuch zu unternehmen, um die vier noch freien Direktoriumssitze zu besetzen. Viel sinnvoller scheint ihm die Einrichtung eines weiteren Beratergremiums der Icann, in dem engagierte Netzuser ihre Interessen vertreten und ihre Positionen den entscheidungsbefugten Icann-Direktoren darlegen.

Von der erhofften, demokratisch legitimierten Icann bliebe dann allerdings nichts mehr übrig. Sie wäre nur eine technische Behörde, die in ihrem eigenen Interesse auch Belange der User berücksichtigt. Für diesen Rückzug auf das, was er „Kernaufgaben“ nennt, plädierte auch Hans Kraaijenbrink, ebenfalls Direktor der Icann. Auch er räumte ein, dass gewisse technische Regeln außertechnische Folgen haben können, etwa für den Zugang zum Netz oder für die Kontrolle von Datenflüssen. Die Icann müsse sich daher möglichst kompetent informieren, meint Kraijenbrink, sie sollte sich aber nicht an die Stelle von politischen Institutionen setzen.

Nicht eben zur Klärung der Streitfragen trägt bei, dass sich eine überraschende Koalition auf der Konferenz abzeichnete. Denn auch die deutsche Justizministerin Herta Däubler-Gmelin, die das Symposium eröffnete, könnte sich mit einer von politischen und gesellschaftlichen Gruppen beratenen, selbst aber bloß in technischen Belangen entscheidungsbefugten Icann anfreunden. Erwartungsgemäß klagte die Politikerin zunächst die Rolle des Staats auch in transnationalen Fragen ein. Nicht die Icann, sondern nur zwischenstaatliche Vereinbarungen könnten letzten Endes Rechtssicherheit im Internet gewährleisten, so lautet der Grundsatz, den die deutsche Ministerin in Erinnerung rief. Denn nur so seien rechtsstaatlich legitimierte Sanktionen gegen Regelverstöße im Internet durchsetzbar. Auch die Kooperation mit der Industrie und deren Angebot zur Selbstregulierung könnten daran nichts ändern.

Nur konnte weder Kraaijenbrink noch die Ministerin erklären, warum die unbestritten notwendige Verwaltung einer gemeinsamen, transnationalen Ressource wie des Internets, einem Gremium übertragen werden soll, das nach kalifornischem Recht verfasst ist und dessen Mitglieder selbst durchaus andere Ambitionen haben. Denn die Icann vermittelt nicht nur nationale Interessen, um die Stabilität transnationaler Computernetze zu gewährleisten. Sie betreibt selbst eine eigenwillige Wirtschaftspolitik, weil sie für sich in Anspruch nimmt, ein einheitliches, weltweit verbindliches System von Internetadressen zu verwalten.

Diese Aufgabe lässt sich leicht aus der Vorgeschichte des Internets erklären. Doch allein schon der Umstand, dass der für das gegenwärtige Domain-Namen-System erforderliche zentrale Server immer noch unmittelbar dem amerikanischen Handelsministerium unterstellt ist, lässt ahnen, welche Interessen damit verbunden sind. Der eigenen Satzung gemäß sollte die Icann längst den Server kontrollieren, auf dem etwa die zulässigen Top-Level Domains gespeichert sind. Aber offenbar misstraut die amerikanische Regierung ihrerseits dieser seltsamen Zwitterbehörde, die sie selbst hervorgerufen hat. Domain-Namen sind wirtschaftlich nutzbar, sowohl für Inhaber als auch für Firmen, die sie im Auftrag der Icann registrieren. Daher werden weder demokratische Experimente noch technischer Sachverstand über die Zukunft der Icann entscheiden, sondern allein die kommerziellen Interessen der Firmen, die Internetadressen verwalten. niklaus@taz.de