Einsame Zweifler

Der Umgang mit dem angeblichen serbischen Hufeisenplan zeigt, wie unkritisch die deutschen Medien bis heute in Sachen Kosovo agieren

von TINO MORITZ

6. April 1999, Weltsaal des Auswärtigen Amtes. Die Einschätzung, die Joschka Fischer am 13. Kriegstag zum Geschehen im Kosovo gibt, kommt nicht unerwartet. Der Minister spricht vom „Versuch, mit den Mitteln brutalster Gewalt eine großserbische Lösung auf dem Balkan zu erreichen“. Neu ist, was Fischer dann sagt: „Die Behauptung, dieses wäre eine Antwort, eine barbarische, aber eine Antwort auf die Nato-Luftschläge, ist schlicht falsch. Uns liegen mittlerweile gesicherte Erkenntnisse vor, dass diese Operation unter dem Operationsnamen ,Podgova‘ (Hufeisen) geplant war und dass sie am 26. Februar 1999 anlief.“

Heute vor zwei Jahren hörte die Weltöffentlichkeit zum ersten Mal vom Hufeisenplan. Doch den Beweis für seine Existenz ist die Bundesregierung bislang schuldig geblieben. Vielmehr verwickelten sich Politiker, Diplomaten und Militärs schon damals in Widersprüche – ohne dass diese Ungereimtheiten von den Medien ernsthaft aufgegriffen wurden. Mit jenem ab der zweiten Nennung dann „Operationsplan ,Hufeisen‘ (Potkova) der serbisch-jugoslawischen Führung zur Vertreibung der kosovo-albanischen Bevölkerung aus dem Kosovo“ genannten Dokument hatte vor allem Verteidigungsminister Rudolf Scharping operiert. Denn dieses belege, so Scharping, dass die Nato-Luftangriffe auf Jugoslawien seit dem 24. März 1999 mit den hunderttausenden Flüchtlingen, die über den Bildschirm deutsche Wohnzimmer entsetzten, nichts zu tun haben konnten: Begann doch die „Verwirklichung“ des Hufeisenplans „wie jeder Sachkundige weiß – schon im Januar 99“, schrieb der Verteidigungsminister im Mai 1999 in einem Leserbrief an die Woche.

Konkreter Plan

Bei seiner Pressekonferenz vom 8. April 1999 bedauerte der Minister, wegen des Quellenschutzes nicht herausrücken zu können mit dem „konkreten Plan – den haben wir erst seit wenigen Stunden, wenigen Tagen, um ganz präzise zu sein“.

taz und Frankfurter Allgemeine dokumentierten das Informationsmaterial der Hardthöhe zum Hufeisenplan fast vollständig. Die Berliner Zeitung beschrieb „das serbische Konzept systematischer Vertreibungen“ als „mit hoher Wahrscheinlichkeit den Vorstellungen des serbischen Diktators Milošević“ entsprechend. Die Frankfurter Rundschau kündete von „immer zahlreicher werdenden Belegen dafür“, dass Milošević „die Vertreibungs- und Mordkampagne im Kosovo unter dem Codenamen ,Operation Hufeisen‘ seit Oktober 1998 vorbereitet hat“. Im Deutschlandfunk behauptete Gerd Breker: „Nun weiß man inzwischen, dass – noch während in Rambouillet verhandelt wurde – die von langer Hand geplante serbische Offensive gegen die Albaner im Kosovo begonnen hat. Ziel war die ethnische Säuberung des Kosovos.“ Und Peter Frey konstatierte im ZDF: „Der Plan, abgestimmt zwischen Staatspräsident Milošević und der jugoslawischen Militärführung, ist die operative Grundlage für die Vertreibung der albanischen Bevölkerung.“

Allerdings fand sich im Spiegel vom 12. April gleich unter einer Hufeisenplan-Grafik auch der aus einem „Lagebericht der Bundeswehr“ zwei Tage vor Kriegsbeginn entnommene Satz: „Tendenzen zu ethnischen Säuberungen sind weiterhin nicht zu erkennen.“ Der war mit Scharpings Interpretation des Hufeisenplans ziemlich inkompatibel, stimmte dafür aber mit anderen Dokumenten überein: „In keinem Lagevortrag, weder des Auswärtigen Amtes, des Verteidigungsministeriums, der Nato in Brüssel oder der OSZE in Wien ist vor dem 24. März von einer groß angelegten, systematischen und planmäßigen Vertreibung die Rede gewesen“, behauptete der ehemalige OSZE-Mitarbeiter Heinz Loquai bereits am 22. Mai 1999 in der NDR-4-Sendung „Streitkräfte und Strategien“. Die Medien mochten diese Darstellung erst Monate nach dem Krieg überprüfen, Loquai hatte als Insider Detailvorteil.

Doch schon im Frühjahr herrschte kein Mangel an Widersprüchen: Fischer redete von einer am 26. Februar 1999 angelaufenen Operation, Scharping datierte den Beginn auf Januar. Der Generalinspekteur der Bundeswehr, Hans-Peter von Kirchbach, betonte am 8. April 1999, der Plan sei „in seinen Details nicht bekannt“, Scharping hatte dagegen den „konkreten Plan“. Und als Louise Arbour vom Den Haager Kriegsverbrechertribunal am 26. April im Spiegel ihre „Zweifel an der Aussagekraft“ des Hufeisenplans anmeldete, war zumindest schon bekannt, dass die von Scharping präsentierte Originalüberschrift nicht Serbisch, sondern eher Kroatisch oder Russisch war: „Kann man sich ernsthaft vorstellen, dass das serbische Militär in kroatischer Sprache einen solchen Plan verfasst?“, fragte Gregor Gysi (PDS) schon am 15. April im Bundestag.

Nachträgliche Version

Nur ein einziger Journalist bezweifelte damals die Angaben des Verteidigungsministers öffentlich: Karl Grobe-Hagel, Auslandschef der FR, vermutete am 19. Mai, „dass die öffentlich gemachten Einzelheiten den Verlauf der massenhaften Vertreibung nachträglich darstellen“. Die meisten Medien blieben bei ihrer Version: „Während in Rambouillet um ein Abkommen gerungen wurde, marschierten starke Truppenverbände in Richtung Kosovo, die in der so genannten Operation Hufeisen den Plan zur Vertreibung hunderttausender Albaner in die Tat umsetzten“, schrieb beispielsweise Peter Münch am 5. Juni 1999 auf der Titelseite der Süddeutschen Zeitung.

Zehn Monate später brachten vor allem die Woche und das Hamburger Abendblatt Licht ins Plan-Dunkel. Abendblatt-Redakteur Franz-Josef Hutsch verwies dabei sogar auf drei eidesstattliche Erklärungen, die einen Oberst aus dem Führungsstab der Streitkräfte als Namensgeber der „Operation Hufeisen“ auswiesen – ohne dass die Hardthöhe rechtliche Schritte gegen diese Darstellung unternahm. Doch die Medienresonanz hielt sich in Grenzen.

Neue Brisanz bekam das Thema seit Februar durch die Dokumentation „Es begann mit einer Lüge“ der beiden Monitor-Journalisten Jo Angerer und Mathias Werth. Sie fügten den „alten“ Vorwürfen durch Recherchen im Kosovo neue Details hinzu, indem sie eine Broschüre Scharpings zum Hufeisenplan detailliert auseinander nahmen. Tatsächlich zog ihr Film wenigstens eine Debatte nach sich – allerdings vor allem über die angeblich „parteiische und unseriöse Recherche“, die der kosovo-albanische Journalist Besnik Hamiti in der FAZ anprangerte. Rupert Neudeck und Norbert Blüm, auch der Spiegel schlossen sich diesen Beschuldigungen inzwischen an, und Rudolf Scharping forderte via Bild eine Entschuldigung des WDR. Von weiteren Nachfragen zum Hufeisenplan scheinen deutsche Journalisten derweil entfernter denn je.

Damit stehen sie nicht allein: Auch Joschka Fischer hütet sich, den Plan zu erwähnen. Zuletzt hatte ihn der Außenminister am 24. November 1999 bemüht – bei seiner Rede vor der Mitgliederversammlung der Deutschen Gesellschaft für Auswärtige Politik: „Hätten wir dem aggressiven Nationalismus Milošević’ nicht getrotzt, wo stünden wir heute, ein Jahr nach dem Beginn der ,Operation Hufeisen‘? Wir hätten mit einem weiteren Krieg in Montenegro oder gar Makedonien rechnen müssen.“