Diskussion zu den Protesten am Taksim-Platz: Der heterogene Charakter

taz und das „Haus der Kulturen der Welt“ in Berlin luden zur Podiumsdiskussion. Türkische Wissenschaftler erörterten die Beweggründe der Proteste und den Verlauf.

Die Diskussion: „Vom Taksim bis nach Iskenderun – Vereint im Protest, gespalten in der Politik“. Tabelle: youtube.com/dietageszeitung

Das, was sich auf den Straßen der Türkei gerade abspielt, ist kein „Türkischer Frühling“. Darin war man sich bei der Podiumsdiskussion am Samstag in Berlin einig. Das Haus der Kulturen der Welt und die taz hatten zur Runde „Vom Taksim bis nach Iskenderun – Vereint im Protest, gespalten in der Politik“ geladen, um die verschiedenen Beweggründe für die Proteste und deren Verlauf zu erörtern.

Bilgin Ayata, Politikwissenschaftlerin am Otto-Suhr-Institut, sieht eine orientalistische Perspektive am Werk: „In den vergangenen Jahren haben die westlichen Medien die Türkei in puncto islamische Demokratie verstärkt als Vorbild für den Nahen Osten proklamiert. Da dieses Modell nun in sich zusammenzubrechen droht, ziehen alle gemeinsam in die entgegengesetzte Richtung, mit Vergleichen, die sie kennen, aber die unangemessen und nicht hilfreich sind.“

Während die Aufstände in der arabischen Welt vermehrt aus wirtschaftlichen Problemen und den Arbeiterstreiks entstanden, wurde die türkische Protestbewegung von Studenten aus der oberen Mittelschicht initiiert, die sich für ihre Bürgerrechte starkmachten. Die Dynamiken, die sich durch den Widerstand im Istanbuler Gezi-Park entwickelten, führten dazu, dass heute eine bunte Koalition aus Generationen, Kulturen und verschiedenen politischen Lagern auf der Straße zusammenfindet.

Der Stadtentwickler Orhan Esen, der per Videochat live aus Istanbul zugeschaltet wird, beobachtet einen gesellschaftlichen Umbruch, der unabhängig von der politischen Opposition vonstatten geht: „Es gibt dieses Stereotyp des klugen Istanbuler Taxifahrers, der immer nach einem Ambulanzwagen Ausschau hält, um sich im Stau hinter ihm durchzumogeln. So verhalten sich gerade alle politischen Parteien in der Türkei. Die Bürgerbewegung hat den Weg zur Kritikfähigkeit frei gemacht, und die Opposition schleicht hinterher.“

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Der Architekt Mehmet Onur Yilmaz berichtet aus Ankara, dass immer noch täglich gewaltsame Auseinandersetzungen zwischen Polizisten und Demonstranten zu beobachten seien und dass das von Erdogan versprochene Referendum über die Bebauung des Gezi-Parks insofern keine Lösung des Problems biete: „Es geht um die Polizeigewalt, die vier Menschenleben forderte. Über 1.000 Demonstranten wurden hier festgenommen, aber nicht ein einziger Polizist wird zur Verantwortung gezogen.“

Die Studentin Aylin Bahadirli aus Iskenderun spricht indessen von kriegsähnlichen Zuständen in der an Syrien grenzenden Provinz Hatay. In der Grenzstadt Reyhanli verloren bei einem Bombenattentat vor einem Monat 52 Menschen ihr Leben. „Die hiesigen Proteste richten sich in erster Linie gegen Erdogans problematische Syrien-Politik.

Weder die Regierung noch die Medien haben diesem größten Attentat in der Geschichte der türkischen Republik die gebührende Aufmerksamkeit geschenkt. Zudem gibt es an den Grenzen überhaupt keine Passkontrollen, und wir leben in Unruhe mit Flüchtlingen zusammen, deren politische Motive nicht eingeordnet werden können.“

Die unterschiedlichen Positionen verdeutlichen den heterogenen Charakter der Protestbewegung, die sich nicht in absehbarer Zeit politisch organisieren lässt. Doch zugleich ist bereits ein wichtiges Ziel erreicht worden: Empathie im gemeinsamen Widerstand gegen die AKP-Regierung.

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