LÖSUNGSVERSUCHE IM KONFLIKT UM BERG-KARABACH
: Gebietstausch im Südkaukasus?

Von JEAN GUEYRAS *

VOR knapp drei Jahren wurde der armenische Präsident Ter-Petrosjan in einer „Palastrevolte“ abgesetzt, weil man ihm unterstellte, er wolle das Gebiet Berg-Karabach „verschachern“. Bis heute sind Armenien und Aserbaidschan einer friedlichen Lösung des Konflikts um die Enklave keinen Schritt näher gekommen. Anfang März trafen die Präsidenten Hejdar Alijew und Robert Kotscharjan in Paris zu Verhandlungen unter der Schirmherrschaft des französischen Staatspräsidenten zusammen – es war das fünfzehnte Treffen in weniger als zwei Jahren.

Bei ihrem jüngsten Treffen in Paris dürften die Staatschefs von Armenien und Aserbaidschan in ihren Verhandlungen über die Beilegung des Berg-Karabach-Konflikts über den alten Plan für einen Gebietstausch gesprochen haben, den die USA kürzlich wieder ins Spiel brachten. Der 1992 von Paul Goble, einem hohen Beamten des State Department, konzipierte und mehrfach modifizierte Plan sieht vor, dass Aserbaidschan die Unabhängigkeit der Republik Berg-Karabach anerkennt und den Latschin-Korridor, die Verbindung zwischen Armenien und der Enklave, an Armenien abtritt. Dafür soll Aserbaidschan der Megri-Distrikt zugesprochen werden.[1]Als Entschädigung der Aserbaidschaner für den Verlust von Berg-Karabach?[2]

Nachdem der Plan durch eine Indiskretion im Januar 2000 nach dem Treffen der beiden Präsidenten Robert Kotscharjan und Hejdar Alijew in Davos an die Öffentlichkeit gedrungen war, wurde dieser Versuch eines Tauschhandels vom aserbaidschanischen Außenminister Wilajat Gulijew begrüßt und als „historischer Durchbruch“ bezeichnet. Die armenische Seite dagegen äußerte sich zurückhaltend: Der Chefdiplomat Wartan Oskanjan gab zwar zu, der Gedanke eines Gebietstauschs sei während des Gipeltreffens geprüft worden, behauptete jedoch, Präsident Kotscharjan habe ihn sofort abgelehnt und das Kapitel sei damit abgeschlossen.

Aram Sarkisjan teilt diese Meinung nicht. Als Nachfolger seines Bruders Wasgen Sarkisjan, der am 27. Oktober mitten in einer Sitzung des armenischen Parlaments ermordet wurde, war er sieben Monate lang Ministerpräsident und führte zahlreiche Gespräche mit Präsident Kotscharjan über Berg-Karabach. Kategorisch erklärte er: „Der Präsident war mit dem Megri-Projekt nicht nur einverstanden, er gehörte zu seinen enthusiastischsten Verfechtern und gab sich sogar für dessen wahren Urheber aus.“ „Präsident Kotscharjan hält zwar den Megri-Plan für die einzig mögliche Lösung des Problems“, versichert ein erfahrener westlicher Beobachter, „aber fatalerweise kann er ihn den Armeniern nicht verkaufen.“ Tatsächlich ist man in Eriwan wie in der Diaspora allgemein der Ansicht, man könne nicht „ein armenisches Gebiet gegen ein anderes armenisches Gebiet“ tauschen. Jeder verantwortliche Politiker, der sich auf so ein Arrangement einließe, würde politisch Selbstmord begehen.

Aschot Manutscherjan ist der Vorsitzende einer kleinen linksextremen Partei, der Union der Sozialistischen Kräfte. Er ist für seine prorussischen Sympathien bekannt und sieht die Sache sehr viel ernster. Während einer Aufsehen erregenden Pressekonferenz im Oktober 2000 „enthüllte“ er, dass die beiden Hauptopfer des Massakers vom 27. Oktober 1999 – Ministerpräsident Wasgen Sarkisjan und Parlamentspräsident Karen Demirtschjan – „auf Befehl von oben“ ermordet worden seien: weil sie sich kategorisch jeder Lösung des Karabach-Problems auf der Basis eines Gebietstauschs widersetzt hätten.

Wenn Manutscherjan auch keinerlei Beweise für seine Behauptungen vorgelegt hat, so ist doch, entgegen den Erklärungen von Wartan Oskanjan, die Sache mit dem „Megri-Korridor“ offenbar keineswegs endgültig abgeschlossen. Kürzlich hat der ehemalige Kaukasus-Sonderberater im US-Außenministerium, Stephen Sestanovich, deutlich darauf hingewiesen, dass der Gedanke eines Gebietstauschs, so unpopulär er in Armenien auch sein mag, nicht einfach verworfen werden dürfe. Für die Amerikaner stellt dieser Plan die beste Möglichkeit einer gerechten Lösung des Karabach-Konflikts dar, unter Wahrung der geopolitischen Interessen der USA und ihrer Verbündeten in der Region.

Russland bangt um seine letzten Freunde

DEN größten Nutzen würde die Türkei aus einer solchen Lösung ziehen. Eine direkte Verbindung – durch Nachitschewan und den Megri-Korridor – mit Aserbaidschan und den turksprachigen Republiken in Zentralasien könnte sie zu einer bedeutenden Macht in der Region werden lassen, die in der Lage wäre, dem russischen und iranischen Einfluss entgegenzutreten. Armenien dagegen würde seine geografische Verbindung zum Iran verlieren, dank derer es die Wirtschaftsblockade durch Ankara und Baku überlebt hat. Teheran und Moskau machen übrigens kein Hehl daraus, dass sie den Plan ablehnen.

Tatsächlich ist der Streit nur eine Episode im heimlichen Kampf um Einfluss, den sich Russen und Amerikaner im Südkaukasus, einem der letzten Schauplätze des Kalten Krieges, liefern. Es gibt keine offene Konfrontation, und beide Protagonisten beteuern, den anderen keinesfalls aus der Region verdrängen zu wollen. Allerdings geraten die Russen seit rund fünf Jahren allmählich ins Hintertreffen. Georgien und Aserbaidschan sind zu Moskau auf Distanz gegangen und haben eine engere wirtschaftliche, politische und militärische Zusammenarbeit mit dem Westen eingeleitet. Nur Armenien zögert aus Furcht vor seinem türkischen „Erbfeind“, den gleichen Weg einzuschlagen: Es hat mit Russland eine Allianz auf fünfundzwanzig Jahre geschlossen, die insbesondere die Aufrechterhaltung russischer Militärbasen auf seinem Territorium vorsieht.

Um die Erfordernisse seiner Verteidigungspolitik und der Entwicklung einer noch in den Anfängen steckenden Marktwirtschaft in Einklang zu bringen, betreibt Eriwan eine „komplementäre“ Außenpolitik, die die militärische Allianz mit Russland bei gleichzeitiger wirtschaftlicher und politischer Zusammenarbeit mit dem Westen sucht. Die Russen haben die westliche Ausrichtung der armenischen Wirtschaft nur zähneknirschend akzeptiert, weil sie fürchten, dass es sich um einen ersten Schritt zu einer weiteren Erosion ihres Einflusses – einschließlich des militärischen – in Armenien handelt.

Das Blutbad vom 27. Oktober 1999 war für Moskau ein Alarmsignal. Hauptopfer waren die verlässlichsten Verbündeten der Russen. Sie waren durch Parlamentswahlen an die Macht gekommen, bei denen die Republikanische Partei unter Führung von Wasgen Sarkisjan, dem charismatischen Chef des Jerkrabah[3], und die Volkspartei unter Vorsitz von Karen Demirtschjan, einem ehemaligen Apparatschik der Armenischen KP, einen überwältigenden Sieg errungen hatten. Mit ihrer komfortablen Parlamentsmehrheit konnte die neue Regierungsmannschaft unter Sarkisjan und Demirtschjan den armenischen Präsidenten politisch in den Hintergrund drängen.

Entgegen den offiziellen Verlautbarungen war das Blutbad vom 27. Oktober also nicht das Werk einiger Fanatiker, sondern quasi ein Staatsstreich: Die Koalition der Parlamentsmehrheit, die so genannte Miasnutjan (Einheit), wurde innerhalb weniger Sekunden ihrer Führung beraubt, und dadurch gelang es, die Kräfteverhältnisse im Innern des Machtapparats zu verändern. Unterstützt durch den gefürchteten Sicherheitschef Sergej Sarkisjan[4]hat Präsident Kotscharjan jetzt alle Fäden in der Hand – damit sind genau die Verlierer der Wahlen vom Mai 1999 an der Macht. Ohne ihre charismatischen Führer, die keinerlei Maßnahmen zur Regelung ihrer Nachfolge getroffen hatten, konnten die beiden Mehrheitsparteien nichts gegen den unaufhaltsamen Wiederaufstieg von Präsident Kotscharjan tun. Nach und nach gelang es diesem, mit einer Geschicklichkeit, die von manchen als machiavellistisch bezeichnet wurde, durch eine Politik von Zuckerbrot und Peitsche das Lager seiner Gegner zu spalten, sodass alle Versuche, ihn abzusetzen, scheiterten.

In diesem Kampf hat Moskau strikte Neutralität gewahrt und sich nicht einmal gerührt, als Präsident Kotscharjan sich sieben Monate später rücksichtslos seinen neuen Regierungschef, Aram Sarkisjan, den Bruder des „Märtyrers Wasgen“, und die als prorussisch geltenden Minister vom Halse schaffte. Allerdings ließ die Moskauer Führung den Armeniern mehrfach diskrete Warnungen zukommen, es mit der „Komplementarität“ in der Außenpolitik nicht zu weit zu treiben.

Im Mai 2000 äußerte sich ein hoher Offizier aus dem russischen Verteidigungsministerium, General Leonid Iwaschow, zu diesem Thema mit bemerkenswerter Deutlichkeit: „Die Vereinigten Staaten, die Nato und insbesondere die amerikanische Botschaft in Eriwan versuchen, einen Keil in die Beziehungen zwischen Armenien und Russland zu treiben und die militärische Zusammenarbeit zwischen unseren beiden Ländern zu zerstören.“ Russland, so fügte er hinzu, betrachte jede „militärische Präsenz Amerikas in der Region als äußerst gefährlich für die Sicherheit des Südkaukasus“. Eine unverhohlene Anspielung auf die zahlreichen Erklärungen, in denen Präsident Kotscharjan eine Beteiligung der Vereinigten Staaten und der EU an einem eventuellen Sicherheitssystem in der Region angeregt hat.

Ein weiterer Missklang zwischen Moskau und Eriwan: Trotz seiner beruhigenden Erklärungen über den Erfolg seiner Oktoberreise nach Moskau hat Präsident Kotscharjan offenbar nicht die vorbehaltlose Unterstützung Russlands für Armenien im Konflikt mit Aserbaidschan erhalten. Im Gegenteil, Präsident Putin nutzte die Anwesenheit seines armenischen Amtskollegen, um seinen Besuch in Baku anzukündigen – wo er sich im Januar einfand und versuchte, ein Tauwetter mit Aserbaidschan einzuleiten – und um abermals seine Neutralität in dem Konflikt zu betonen: Russland, so erklärte Putin, habe keine „Sonderansprüche“ in Bezug auf die Regelung des Karabach-Problems.

Durch sein Lavieren zwischen Moskau und dem Westen nach außen geschwächt, bleibt Präsident Kotscharjan auch innenpolitisch gefährdet. Zwar ist es ihm gelungen, einige der mit dem Jerkrabah verbündeten prorussischen Militärs durch die Beförderung der ehrgeizigsten unter ihnen auf Führungsposten im Oberkommando der Armee und im Verteidigungsministerium ruhig zu stellen. Auch hat er all diejenigen aus der Regierung geschasst, die im Ruf standen, etwas zu umtriebig zu sein. Und er hat die Koalition der Miasnutjan gespalten und politisch ausmanövriert.

Doch ist es ihm nicht gelungen, sich eine neue homogene und loyale Mehrheit im Parlament zu verschaffen. Er hat auch den Argwohn in weiten Teilen der Öffentlichkeit nicht zerstören können, die nach wie vor überzeugt ist, dass Leute aus seiner Umgebung in die Tragödie vom 27. Oktober verwickelt sind. Schlimmer noch, er konnte die soziale und wirtschaftliche Krise, unter der ein Großteil der Bevölkerung zu leiden hat, nicht lösen.

Die Regierung Sarkasjan/Demirtschjan hatte in der Bevölkerung große Hoffnungen geweckt. Nach allgemeiner Ansicht hat der Verlust dieser „letzten, unsinnigen Hoffnung“ in alarmierender Weise die Auswanderungswelle beschleunigt, die durch die Rekordarbeitslosigkeit von über 40 Prozent in der erwerbsfähigen Bevölkerung ausgelöst wurde. Für Wladimir Tarpinjan, den Vorsitzenden der KP Armeniens, ist dies eine „nationale Katastrophe“. „Die Bedingungen für ein normales Leben sind in Armenien nicht mehr gegeben“, fügt er hinzu und rechtfertigt damit wider Willen den großen Exodus.

Nach Meinung der Kommunisten und ihrer linksextremen Verbündeten kann nur eine offen an Moskau orientierte Politik, das heißt der Anschluss Armeniens an die russisch-weißrussische Allianz, dem Land aus der Klemme helfen. Die Anhänger einer intensiveren Zusammenarbeit mit den USA und der Europäischen Union glauben, dass in einem Land, das den Gesetzen der Marktwirtschaft unterliegt, der russische Einfluss zwangsläufig zurückgehen wird und dass nur ein massiver Zufluss westlicher Investitionen die Wirtschaft wieder in Schwung bringen kann.

Allerdings muss zuvor der Konflikt um Karabach beigelegt werden, der potenzielle Investoren abschreckt und der, nachdem er lange Zeit zur Mobilisierung der Bevölkerung diente, jetzt die wirtschaftliche und politische Zukunft Armeniens schwer belastet. Am Ende seiner Herrschaft war der ehemalige Präsident Lewon Ter-Petrosjan bereit, eine von der Minsker Gruppe[5]vorgeschlagene Kompromisslösung zu akzeptieren, weil seiner Einschätzung nach Armenien keine stabile Entwicklung erleben könne, solange der seit dreizehn Jahren währende Karabach-Konflikt mit Aserbaidschan nicht beigelegt ist. Das kostete ihn im Februar 1998 die Macht. Wird Präsident Kotscharjan die politische Courage haben, den gleichen Weg einzuschlagen?

dt. Sigrid Vagt

* Journalist, Paris

Fußnoten:

1 In seiner jüngsten Variante sieht der Goble-Plan die Schaffung eines zehn Kilometer breiten Korridors vor, mit zwei schmalen Durchfahrten, die einen gewissen Verkehr zwischen Armenien und dem Iran ermöglichen würden.

2Vgl. Jean Radvanyi und Philippe Rekacewicz, Dossier, Le Monde diplomatique, Oktober 2000, und Jean Gueyras, „Weder Krieg noch Frieden in Berg-Karabach, Le Monde diplomatique, Januar 1996.

3Der Jerkrabah („Landeswächter“), eine paramilitärische Organisation von Veteranen des Karabach-Krieges, war unter dem Einfluss von Wasgen Sarkisjan zu einer der wichtigsten politischen Kräfte Armeniens geworden.

4Als Minister für nationale Sicherheit zum Zeitpunkt des Blutbads vom 27. Oktober hätte Sarkisjan ebenso bestraft werden müssen wie damals der Innenminister und der Generalstaatsanwalt; allen drei hat die Armee Fahrlässigkeit vorgeworfen. Er wurde jedoch rasch befördert und gilt in seiner Eigenschaft als Verteidigungsminister als gegenwärtige Nummer zwei des Regimes.

5Die Minsker Gruppe wurde 1992 unter der Schirmherrschaft der OSZE ins Leben gerufen, um eine Lösung für den Konflikt um Berg-Karabach zu suchen. Drei Länder teilen sich den Vorsitz: USA, Russland und Frankreich.