Gegen das fahrlässige Vergessen

Von „arischen Lebensgefährten“, „polizeilicher Vorbeugehaft“ und den „Bestimmungen zur Bekämpfung der Zigeunerplage“: Das Theater Pralipe zeigt im Postfuhramt das Stück „Z 2001 – Die Tinte unter meiner Haut“, eine Auseinandersetzung mit dem Völkermord an den Sinti und Roma

Berlin, Februar 1943, Friedrichstadt-Palast. Gesucht werden neue Stimmen für eine Revue. Eine der Bewerberinnen ist die 19-jährige Zigeunerin Margarete Herzstein, die im geborgten Kleid im blendenden Lichtkegel auf der Bühne steht. Sie kann die fragenden Juroren nicht erkennen. „Bitte? Nein! Wir sind keine Juden.“ Es entsteht eine unangenehme Pause. Margarete singt ihre erste Strophe. Bricht plötzlich ab, weicht zurück, als ob sie jemand im Zuschauerraum angebrüllt hätte. „Bitte? Ach so, verstehe. Wiedersehen!“ – Zwei Wochen später verlässt ein so genannter Zigeunertransport Berlin. Darunter ist auch Margarete Herzstein.

Berlin, März 2001, Postfuhramt Oranienburgstraße. Das Roma-Theater „Pralipe“ aus Mülheim an der Ruhr zeigt „Z 2001 – Die Tinte unter meiner Haut“. Die in Zusammenarbeit mit dem Hebbel Theater und der Werkstatt der Kulturen entstandene Produktion ist eine Auseinandersetzung mit dem Völkermord an Sinti und Roma zur Zeit des Nationalsozialismus. Im Mittelpunkt stehen sieben persönliche Beziehungen, die an den menschenverachtenden Mechanismen des faschistischen Machtapparats zerbrochen sind. Da ist die Geschichte der Margarete Herzstein. Oder die der Romni Christine Lehmann und ihres „arischen“ Lebensgefährten Karl Hessel. Gesetzlich wurde ihnen die Ehe und Beziehung verboten, dennoch bekamen sie zwei Kinder. Am 26. Januar 1943 verhängt die Kriminalpolizeistelle Essen die „polizeiliche Vorbeugehaft“ über Christine. Sie und ihre beiden Söhne Egon (5) und Robert (2) sterben in Auschwitz, Karl Hessel an der Ostfront.

Die Konzeption für „Z 2001“ ist mehrschichtig: Die Produktion unterscheidet eine dokumentarische, eine fiktionale und eine musikalische Ebene. Komponist Ference Snetberger baut mit leisen Tönen zu Milenko Goranovics in Deutsch und Romaniverfassten Textfragmenten einen Kosmos der stillen Kommunikation zwischen den Opfern und den fahrlässig unwissenden Enkeln und Urenkeln der Tätergeneration. Begleitend gibt es ein Buch mit Faksimiles des Schriftverkehrs der für die einzelnen vorgestellten Menschen zuständigen Kriminalpolizeidienststellen. Die „Bestimmungen zur Bekämpfung der Zigeunerplage“ sind dort ebenso nachzulesen wie nüchtern ausgefüllte erkennungsdienstliche Aufnahmeformulare. Dazu zahllose abschlägig beschiedene Anträge auf Entlassung von Verwandten aus Konzentrationslagern.

Vor 30 Jahren gründet der Regisseur Rahim Burhan in Skopje, im heutigen Makedonien, das Roma-Theater Pralipe. Sie spielen politisch engagierte Stücke von der Antike bis zur Moderne, nehmen an internationalen Theaterfestivals teil, erhalten angesehene Preise. Doch in der Heimat regt sich politischer Widerstand gegen die Truppe. Der Druck auf das Ensemble wächst, schnell ist es finanziell am Ende. Ende der 80er-Jahre steht es vor dem Aus.

Der Retter kommt aus Mülheim: Roberto Ciulli vom Theater an der Ruhr holte die Roma, die er bereits zu Gastspielen an sein Haus geladen hatte, fest nach Nordrhein-Westfalen. Mit ihrer ersten Inszenierung 1991 in Mülheim, Lorcas „Bluthochzeit“, wurde Pralipe über Nacht in ganz Europa bekannt.

Pralipe entwickelte sich in den vergangenen zehn Jahren zu einem europäischen Theater. Schauspieler, Dramaturgen und Techniker aus fünf Nationen arbeiten hier zusammen. Im letzten Jahr waren sie bei den Ruhrfestspielen in Recklinghausen mit dem Antikriegsstück „Kosovo mon amour“ vertreten. Festspielleiter Hansgünter Heyme stärkte damit das Roma-Theater auch materiell, denn Pralipe, das keine staatliche Förderung erhält, steht schon wieder vor dem Aus. Roberto Ciulli hatte es mit seinem Etat für internationale Theaterzusammenarbeit über Wasser gehalten, den er mit Duldung der Landesregierung an Pralipe weitergab, obwohl die Fördermittel für andere Zwecke bereitgestellt waren. Diese Zweckentfremdung soll nun nicht mehr geduldet werden.

Bundespräsident Johannes Rau und Günter Grass schrieben schon aufmunternde Briefe an NRW–Ministerpräsident Wolfgang Clement mit der Bitte, die Roma weiter zu unterstützen. Alle wollen das europäische Theater in Nordrhein-Westfalen halten; dafür aber bedarf es 500.000 Mark Förderung. Mit „Z 2001 – Die Tinte unter meiner Haut“ gastiert Pralipe nun in Paris, Wien, Prag und Madrid. Die Uraufführung findet heute in Berlin statt, wo man sich mit der öffentlichen Aufarbeitung des Völkermords an Roma und Sinti bisher bekanntermaßen etwas schwer tut . PETER ORTMANN

„Z 2001 – Die Tinte unter meiner Haut“, 10. u. 11., 13.–18. 3., 20 Uhr, Postfuhramt Oranienburger Straße, Mitte