Bilder aus der Vergangenheit

Ein neues Buch über Holger Meins, der 1974 im Hungerstreik der RAF starb, bringt endlich Emotionen in eine Debatte, die sich bislang aus vermeintlich sensationellen Archivfunden nährt. Annäherung an eine Zeit der Militanz

von PETRA GROLL

Der Mann wäre dieses Jahr sechzig geworden. Und wenn man die vielen Fotos von ihm anschaut in dem neuen Buch, dann fällt es nicht so schrecklich schwer sich vorzustellen, wie er heute aussehen könnte. Faltig, weißhaarig, hager. Kantige Gesichtszüge, etwas gebeugt vermutlich. Ein schmallippiges Grinsen. Aber eines, das sich von einem Ohr zum anderen ausbreitet.

Holger Meins ist am 9. November 1974 gestorben, gerade eben 33-jährig. Der Stern veröffentlichte das grauenhafte Foto des auf 39 Kilo abgemagerten, in einer Hamburger Friedhofskapelle aufgebahrten Toten auf einer Doppelseite. „Baader-Meinhof-Befehl aus der Zelle: ,... und wenn Typen dabei kaputtgehen‘ “, lautet der Titel des Artikels, der vor einer „neuen Terrortaktik“ und Anschlägen der „Rote Armee Fraktion“, RAF, warnt. Zu Recht, wie sich später zeigen soll.

Holger Meins stirbt nach fast zwei Monaten Hungerstreik in Wittlich, in Zelle 51, in Untersuchungshaft. Zusammen mit Andreas Baader, Gudrun Ensslin, Ulrike Meinhof und Jan Carl Raspe soll ihm im folgenden Jahr in Stuttgart-Stammheim der Prozess gemacht werden. Fünf Morde werden den Angeklagten vorgeworfen.

In allen größeren Städten der damaligen BRD rennen Jugendliche, Studenten, die Reste der Achtundsechziger auf die Straßen. In den Unis, in Jugendzentren und Kneipen agitiert das Poster mit dem Titel „Ein Genosse ist tot“ zum Kampf; zu lesen stand dort auch die revolutionäre Durchhalteparole von Bert Brecht: „Wer seine Lage erkannt hat, wie sollte der aufzuhalten sein?“ Es gibt Verhandlungen mit der DDR-Obrigkeit, ob ein Konvoi von Westberlin nach Hamburg die Transitstrecken geschlossen passieren könne. Erboste Hamburger hingegen, so berichtet Stefan Aust, der heutige Chefredakteur des Spiegel, in seinem Buch „Der Baader-Meinhof-Komplex“, wollen den Toten nicht auf „ihrem“ Friedhof haben und drohen, die Leiche aus dem Grab zu holen und aufzuknüpfen.

Während die bürgerliche Öffentlichkeit Staatstreue so haarfein demonstriert wie der damalige Bundeskanzler Helmut Schmidt seinen Scheitel zu ziehen weiß, ballt unter den Augen mehrerer tausend Trauergäste einer am Grab die Faust und ruft: „Holger, der Kampf geht weiter!“

Rudi Dutschkes Abschiedsgruß wird lebendig. Die Konfrontation mit dem „Schweinesystem“ eskaliert an den Gefangenen. Ein RAF-Kommando „Holger Meins“ besetzt 1975 die deutsche Botschaft in Stockholm. In Westberlin kidnappt die „Bewegung 2. Juni“ den CDU-Vorsitzenden Peter Lorenz und kann – einmalig in der Geschichte der Bundesrepublik – der SPD-geführten Bundesregierung tatsächlich gefangene Genossen abtrotzen. 1977 versucht erneut ein RAF-Trupp, Gefangene gegen das Leben des Arbeitgeber-Vorsitzenden Hanns-Martin Schleyer freizupressen. Mit bekanntem tödlichen Ergebnis.

Holger Meins ist nicht der erste Tote in dieser Auseinandersetzung und auch nicht der letzte. Doch sein Tod markiert auf besondere Weise die ganze Unerbittlichkeit dieser Jahre. Das Leichenbild ist zur politischen Ikone geworden. Eine, die fürchterliche Härte vermittelt, Konsequenz bis ins Letzte, Kälte. Eine Ikone, die zur Distanz zwingt.

Gerd Conradt, der jetzt nach jahrelanger Recherche das Buch „Starbuck – Holger Meins. Ein Porträt als Zeitbild“ vorlegt, will Nähe herstellen. Ein Freundschaftsdienst. „Als Filmstudenten lernten wir uns 1966 an der neu gegründeten Deutschen Film- und Fernsehakademie in Berlin (West) kennen.“

Eine verlorene Freundschaft: „Als Holger Meins die Kamera mit der Waffe tauschte, trennten wir uns.“ Und wohl auch eine enttäuschte Freundschaft: „Ob man mit Holger Freund sein konnte, weiß ich nicht, zu kritisch sah er jeden Moment, hielt Abstand, um Entscheidungen aus der Distanz zu treffen. In den vier Jahren unserer Bekanntschaft – in denen wir lernten, arbeiteten, reisten, diskutierten, demonstrierten, kochten, rauchten, uns verliebten, agitierten, gewalttätig wurden – gab es Momente zärtlicher Nähe. Ich bin Zeuge, Beobachter, der Spurensucher.“

Man kann das Buch als Trauerarbeit verstehen. Klar, dass dem Dokumentarfilmer Gerd Conradt die Optik fast am wichtigsten ist. Er hat eine Fülle von Material zusammengetragen. Familienfotos. Selbstporträts, Linolschnitte, Ölbilder. Holger Meins vor und hinter der Kamera. Haschrebellen, die Kommune 1, Antispringerkampagne, Fahndungsfotos, Zeitungsartikel, Bilder von der Festnahme, Szenen von der Beerdigung. Ausschnitte aus dem Kurzfilm „Oskar Langenfeld“ von Holger Meins, aus „Herstellung eines Molotowcocktails“, ebenfalls von Meins.

Für die Beteiligten von damals gerät das Betrachten sicher zur emotionalen Angelegenheit. Jüngere finden ein spannendes Bilderbuch aus turbulenten Zeiten vor. Blättern, blättern, schauen. So wie es sein soll. Den optischen Hinweisen geht Conradt in Interviews nach. Befragt alle nach ihren Erinnerungen, Erlebnissen mit Holger Meins: Vater, Freunde, Kommilitonen, Kommunarden, Kollegen aus der Filmszene, Kampfgenossen.

Manchmal sind es protokollartige Kapitel, manche Gespräche sind assoziativ, voller Atmosphäre. Am Ende verdichtet sich ein Mosaikbild. Der Blick auf einen offensichtlich intelligenten, kommunikativen, neugierigen Menschen, der sich für Kultur wie Politik interessiert. Einen, für den Verantwortungsgefühl wie Lebensfreude keine Fremdwörter sind. Einen, den man gern träfe – auch mit sechzig.

Entscheidende Fragmente sind der Zerstörung zum Opfer gefallen. Wer war Holger Meins für Ulrike Meinhof, für Gudrun Ensslin, Andreas Baader, Jan Carl Raspe? „Starbuck“, so kodiert ihn Gudrun Ensslin nach dem Roman „Moby Dick“ von Hermann Melville, als sie, bereits im Gefängnis, nach neuer Camouflage suchen. „Starbuck“ ist der Steuermann, dem die Besatzung und der Kapitän „Ahab“ (nach RAF-Lesart: Andreas Baader) vertrauen.

Was denkt Otto Schily heute, der damals als RAF-Anwalt nach dem Tod von Holger Meins im Spiegel einen dramatischen Appell an die demokratische Öffentlichkeit richtet? Bleibt dieses Fragment hinter der Staatsraison oder der verdrängenden Selbstreinigung des heutigen Innenministers verschollen? Was sagt Manfred Grasshof heute, den, als er wenige Tage zuvor den kollektiven Hungerstreik abbricht, dieses Traktat aus der Wittlicher Todeszelle erreicht: „entweder mensch oder schwein. entweder überleben um jeden preis oder kampf bis zum tod. entweder problem oder lösung. dazwischen gibt es nichts. sieg oder tod – sagen die typen überall, und das ist die sprache der guerilla – auch in den winzigen dimensionen hier: mit dem leben ist es nämlich wie mit dem sterben“? Ein paar Tage später stirbt der Verfasser, Holger Meins.

Gerd Conradt hat sich um ihre Statements bemüht. Es gibt sicher gewichtigere Gründe für eine Absage als den, dass man sich auf die esoterischen Erklärungsversuche des Autors nicht einlassen mag. Sonntagskind Holger? Pfadfinder Holger? Holger, der Christ, der heilige Georg? Die Leserin blättert darüber schlimmstenfalls maulend hinweg.

PETRA GROLL, 43, taz.mag-Redakteurin und momentan mit der Vorbereitung des taz-Kongresses am letzten Aprilwochenende beschäftigt, hat 1997 das taz-Journal „20 Jahre Deutscher Herbst“ herausgegeben