Sie kämpften. Wir wissen nicht warum

„Rosenfest“: Andreas Baader heißt hier Hänsel, Gudrun Ensslin ist Gretel. Wie der 31-jährige Schriftsteller Leander Scholz mit einem Liebesroman die 68er endgültig zum Schweigen bringen wollte. Und wie er durch kleine taktische und große erzählerische Schwächen genau das Gegenteil erreichte

von VOLKER WEIDERMANN

Dieses Gerede. Dieses große Gerede von der Gewalt auf der Straße und dem Straßenkampf, der jetzt, plötzlich, auf Bildern aussieht wie ein richtiger Straßenkampf. Ah, das ist überraschend. Die Zeit war eben so. Es war notwendig. Wir waren wenig klug. Aber das ist meine Biografie. Ja, Gewalt war auch dabei. Aber nur ein bisschen. Nur eine kleine Enthelmung. Heute wäre dieselbe Tat falsch und war es damals schon. Denn heute sind wir schlau. Die Welt eine andere. Wir sind angekommen, Helm auf unsrem Kopf. Der bleibt da. Und Du enthelmst mich nicht, kleiner Genosse. Von damals, der Du jetzt einsam, sehr einsam auf der Anklagebank sitzt. Terrorist. Exterrorist. Tätschle Deine Hand. Mitleidiger Blick. Alles Gute. Ich muss gehen.

Die anderen reden weiter. Unter Bekenntniszwang. „Alors, je m’accuse.“ Hier: mein roter Kalender. Hier: meine Bekennerschreiben von damals. Hier: meine Narben. Für die Demokratie. Für mehr Menschlichkeit. „Einige hatten die Brandsätze halt dabei und warfen sie. Wir freuten uns.“ Es war: „Ein Segen für dieses Land.“ Glaubt mir: „Was heute wie eine Selbstbezichtigung klingen mag, war damals völlig normal.“ – Solche Sätze schwirren umher wie Fliegen. Was ist das für ein Vakuum, in das die Schwadroneure ihrer revolutionären Jugend so unermesslich wortschwallmächtig hineindringen können? Meine Biografie, mein Leben, mit Sinn, mit großem, nie zuvor gekanntem Sinn erfüllt und größter Lebenslogik, ja, lasst uns sagen: Lebenskonsequenz. Lebenslauf ist unsre Religion. Biografie: kein Spiel.

Das ist die wahre Angst der 68er. Dass ihre Geschichte einfach unwesentlich wird, irgendeine Geschichte wie andere, wie so viele andere auch. Eine historische Nichtigkeit. Nicht richtig ernst genommen von den Nachgeborenen. Abgelegt. Verbraucht. Verbrannt. „So flammte die Geschichte auf und hatte sich erzählt.“ (Rainald Goetz) Zum letzten Mal? Lasst uns uns unsere Geschichten erzählen. Den anderen auch. Alle sollen unsere Geschichte hören. Es ist unsere Geschichte. Alle ihr da draußen: Hört! uns! zu! Leander Scholz, Jahrgang 69, wollte nicht mehr zuhören. Den Geschichten von damals. Den Mythen. Wollte nicht mehr das Gefühl haben, „in einer defizitären Zeit“ (Scholz) zu leben, nur weil er „damals“ noch nicht gelebt hatte. Damals. Als es um „alles“ ging. Als man sich eine große Vergangenheit zurechtleben konnte, zu der „wir“ (=ich, Leander Scholz) „immer schon zu spät gekommen waren“. Doch jetzt, endlich, wollte er pünktlich kommen. Pünktlich zur Vergangenheit. Und so hat er „in gewisser Weise einen Gegenwartsroman“ geschrieben. Einen Gegenwartsroman über die Vergangenheit, die nicht vergehen will, die als Wortschwallmythos in seine Gegenwart mächtig, allmächtig hineinragt, ohne von ihm gestaltet werden zu können. Jetzt hat er sie gestaltet, auf seine Art. In einem Roman. „Rosenfest“.

Er hat es geschafft. Es ist seine Geschichte geworden. Die Gründungsgeschichte der RAF. Sie gehört jetzt ganz ihm. Denn bei der Geschichte, die Leander Scholz erzählt, wird niemand dabei gewesen sein wollen. Die von damals wenden sich angewidert von dieser Geschichtsbanalisierung ab, die von heute fragen sich: Ach. Das ist das Ganze? Und warum wird unablässig über diese Lappalien gesprochen? Warum schreibt einer von uns einen Roman darüber? Wir wissen es nicht. Und hätte Leander Scholz seinen jetzt erschienen RAF-Roman nicht mit ausführlichen theoretischen, psychologischen und lebenserinnernden Begründungstexten von Frankfurter Rundschau bis Freitag großsprecherisch begleitet und fiele das Erscheinen seines Buches nicht zufällig in die Zeit der ausufernden Debatte um die Gewaltbereitschaft einer gerade an die Macht gekommenen Generation, man könnte „Rosenfest“ einfach beiseite legen. Ein Märchen. Eine Geschichte. Um beinahe nichts. Doch da dieses „nichts“ irgendwie die Gründungsgeschichte der RAF umschreiben?, neu beschreiben?, bannen? soll, sehen wir doch genauer hin.

„Als Hänsel gefangengenommen wurde, ging Gretel ins Kaufhaus, um sich eine rote Bluse zu kaufen.“ So fängt es schon mal an. Hänsel wird im weiteren Verlauf „Andreas“ genannt, Gretel ist „Gudrun“. Es sind: Andreas Baader und Gudrun Ensslin. Ihre Geschichte beginnt bei der Anti-Schah-Demonstration am 2. Juni 1967, dem Tag, an dem Benno Ohnesorg starb. Sie sehen ihn sterben. Sie fliehen. Später lieben sie sich. Sie legen eine Bombe in einen Kleiderschrank des Kaufhauses Schneider in Frankfurt. Sie fliehen nach Rom. Sie kehren zurück und legen noch die ein oder andere Bombe in Springer-Häusern nieder. Dann werden sie verhaftet.

An historischen Daten stimmt da einiges. Einiges nicht. Es ist ein Roman. Niemand wird Scholz das vorwerfen. Er hat nie, wie Stefan Aust in seinem großen Politithriller „Der Baader-Meinhof-Komplex“, aus dem Scholz so manches übernimmt, behauptet, die Geschichte der RAF „so genau wie möglich zu rekonstruieren“. Scholz wollte „das Experiment wagen, die Protagonisten der RAF für einen kurzen Moment noch einmal in ihre Privatheit zu entlassen“. Und: das ist das Entsetzliche an dem Buch gewordenen Ergebnis. Diese Privatheit der RAF-Gründungsgeneration, wie Leander Scholz sie sich vorstellt, ist läppisch, kitschig, belanglos und banal.

Warum sie morden? Er weiß es nicht. Er ahnt: aus Liebe. Aus Langeweile. Aus einer Lust am Untergang, Sehnsucht nach Auslöschung. Aus Spaß, aus einer Laune vielleicht. Auf der Suche nach dem Wesentlichen. Nach der „E-X-I-S-T-E-N-Z“, wie es bei jener Gudrun heißt. Aber all das wird nicht einmal richtig verfolgt, auserzählt, glaubhaft gemacht. Die beiden Liebenden sind nicht einmal ein großes Liebespaar, nicht mal wirkliche Romantiker ihres eigenen Untergangs. „Er sei kein Romantiker, widersprach er, zog Gudrun langsam zu sich heran und stemmte sie mit aller Kraft in die Senkrechte.“

Was bei all dieser erzählerischen Unentschiedenheit, bei all diesem „das Private erzählen wollen und nicht können“ herauskommt, ist oft ganz einfach Kitsch. Da wirbeln dann Gudruns Haare wie in einer „markigen Bierreklame“ durcheinander und sie ist „kernig schön, zum Anfassen“, „die Haare zu dicken Flechten verwebt“ und die ganze Gudrun von einer „wunderbaren Energie durchspült“. Na ja. So spült die Energie also so dahin, und in der Mitte des Buches kommt noch, wie um ein schlechtes Gewissen zu beruhigen, ein anderthalbseitiges Politstatement von Andreas vorbei. Das ragt einsam aus der Privatgeschichte heraus, wirkt mühsam herbeizitiert und bleibt erzählerisch folgenlos.

Dabei hatte Scholz relativ großen medialen Aufwand betrieben, um die Welt wissen zu lassen, dass er durchaus kein Gesinnungsgenosse von Generationsgefährten wie etwa Alexander von Schönburg ( „Ich finde die RAF ein abstoßendes Thema“) oder Christian Kracht („Andreas Baader und Gunter Sachs geben sich im Style ja fast gar nichts“) sein will. Nein, Scholz, so schreibt er, sind die handelnden Figuren von damals, die Terroristen „spiegelbildlich nah“. Er weiß, dass „in den Auswüchsen der studentischen Proteste bis zur terroristischen Gewaltbereitschaft auch eine tiefe Verzweiflung gesehen werden muss“. Und all dies, all diese Verzweiflung, dies Leiden an der Ungerechtigkeit sei keineswegs vergangen, sei heute keineswegs gegenstandslos. Im Gegenteil, stelle er sich manchmal verwundert die Frage, „ob die Welt denn weniger verrückt geworden ist und warum die derzeitige Globalisierung nicht viel heftigere Reaktionen provoziert“.

Ja, warum eigentlich nicht? Scholz behauptet, die nostalgische Faszination am selbst ermächtigten Protest von damals müsse erst ganz vergessen sein, bevor das große politische Handeln wieder möglich sei und „die Fragen nach den ökonomischen Verwerfungen jenseits von Realpolitik wieder in einer politischen Kultur“ erfasst werden können. Mit seinem Roman wolte Scholz „einen Bann aufheben und ein Märchen zu Ende erzählen“.

Mit anderen Worten: Scholz will die Vergangenheit besiegen, indem er sie banalisiert, und er will die Inhalte von damals vergessen machen, um sich endlich wieder auf die politischen Inhalte von heute besinnen zu können. Die erzählerische Taktik des Leander Scholz ist, freundlich gesprochen, etwas selbstquälerisch.

Sein Lieblingssatz aus dem Buch dürfte jener sein, den er seinem märchenhaften Helden Andreas in den Mund gelegt hat: „Man müsste mal etwas tun, aber im Grunde erklären, warum man nicht kann.“ Für diese große Erklärung seines Nichtstuns hat Leander Scholz einen ganzen Roman geschrieben. Und keinen guten. Der Bann ist nicht aufgehoben, das Märchen nicht zu Ende erzählt. Leander Scholz muss mit dem Handeln weiter warten. Und das Gerede wird weitergehen.

Leander Scholz: „Rosenfest“. Hanser Verlag, München 2001. 247 Seiten,35 DM