Geschichte gab es auch nach 68

Die heute 30-Jährigen behaupten zu Unrecht, politisch im Schatten der 68er zu stehen. Seit 1989 standen sie im Zentrum dramatischer gesellschaftlicher Umwälzungen

Die Protagonisten der sozialen Kämpfe der 90er-Jahre kommen vor allem aus marginalisierten Familien

Wer heute zwischen 45 und 60 Jahre alt ist, der hat es gut. Der hat wie Joschka Fischer und Jürgen Trittin in seiner Jugend Aufregendes erlebt und Spannendes zu erzählen. Rebellisch, antibürgerlich durften sie sein. Und unbekümmert abräumen konnten sie auf dem Markt der Ideologien.

Wie viel schwerer haben es da die Jungen. Eingekeilt zwischen der liberal-repressiven Bürgerlichkeit ihrer saturierten 68er Eltern und politischer Langeweile haben sie scheinbar nur die Wahl zwischen Zynismus und dem neidvollen Blick auf die wilden 60er- und 70er-Jahre.

„Wer zwischen 1940 und 1955 geboren ist, hat das große Glück, zu einer Generation zu gehören, die über einen gemeinsamen historisch bezeugten Erfahrungsraum verfügt.“ In seinem Aufsatz „Papa, was ist eine Revolte?“ (taz vom 27./28. Januar) stellt Kolja Mensing, 29, eine bemerkenswerte These auf: Da es in den 80er- und 90er-Jahren nur ein zeitgeschichtliches Datum gegeben habe, den 9. November 1989, werden die heute um die 30-Jährigen, im Gegensatz zu der 68er- und 78er-Generation, dereinst keine aufgeregten politischen Debatten über diese Zeit führen können. Sie seien Repräsentanten der Posthistorie, und das habe, so der Autor, auch für die Generationserzählung der Zukunft Folgen: „Eine Geschichte gibt es dann nicht mehr, mit seinen Geschichten ist man ganz allein.“

So viel Einsamkeit, so viel Geschichts- und Gesichtslosigkeit reizt zum Widerspruch. Denn seit 1950 stand kaum eine Jugendgeneration so im Zentrum dramatischer gesellschaftspolitischer Umwälzungen und historischer Ereignisse wie die der heute 30-Jährigen in den vergangenen zehn Jahren. Die wichtigsten Stationen: Die Wahlerfolge rechtsradikaler Parteien seit Januar 1989, die Öffnung der Mauer, der Golfkrieg gegen den Irak, Hoyerswerda und Rostock, die Studentenstreiks, der Bosnien- und der Kosovo-Krieg, der Siegeszug des Neoliberalismus und die Neuordnung Europas.

Der so genannten Generation Golf mag das Heroische der 68er ff. abgehen, aber es mangelte ihr nicht an Gelegenheiten, am Leben, der Politik und damit an der Geschichte teilzuhaben. Erinnern wir uns: 1989, als sie 18, 19 Jahre alt war, überschlugen sich die politischen Ereignisse – in Ost und in West. Für die Generation war es das Jahr ihrer politischen Initiation. Ein Teil von ihr rückte nach rechts und votierte für die „Republikaner“. In Berlin waren es bei den Abgeordnetenhauswahlen im Januar 1989 bis zu 20 Prozent der männlichen Erstwähler – ein Novum. Ein anderer Teil gründete daraufhin an den Schulen und in den Stadtteilen Antifa-Gruppen.

Schon wenige Wochen später, am 20. April, dem hundertsten Geburtstag Adolf Hitlers, erlebten diese ihre erste Bewährungsprobe auf der Straße. Neonazis kündigten in Hamburg, Köln, Frankfurt und auch Berlin Übergriffe auf türkische Schüler an. Deutsche, griechische, italienische und türkische Jugendliche schlossen sich in Selbsthilfegruppen zusammen, um den Einmarsch der Neonazis in ihre Wohnquartiere zu verhindern.

Es war ein Ereignis mit gesellschaftspolitischer Tiefenwirkung. Vor allem für viele Jugendliche aus Einwandererfamilien rückten Pogrome in den Bereich des Möglichen. An diesem 20. April blieb die Hälfte der türkischen Schüler in Berlin aus Angst vor Übergriffen dem Unterricht fern. Mit der Öffnung der Mauer gewann die Entwicklung an Dramatik. Über Jahre hinweg lieferte sich die Generation Golf in Halle, Leipzig, Dresden, Magdeburg und Berlin einen blutigen, mitunter auch tödlichen Straßenkampf um die Frage: Wem gehört der Alexanderplatz, Connewitz, die Neustadt? Der bunten, der multikulturellen Szene oder der rechten.

Die Protagonisten gehörten weniger den akademisch gebildeten Ständen an, sondern kamen häufig aus den postproletarischen Familien, die auch um knapper werdende Ressourcen stritten. Das mag mit ein Grund dafür sein, dass die Hörsäle und die literarischen Salons seltsam unberührt blieben. Nahmen sie von den Kämpfen Notiz, dann meist nur, um sich über die Gewalt der Jugend zu erregen.

Und erinnert sich heute noch jemand an den Golfkrieg 1991? Bundesweit demonstrierten zigtausend Schüler. Nicht um sich in die Alt-68er-Debatte zwischen Pazifisten und Bellizisten einzumischen, sondern weil ihnen bewusst war, dass sie seit 1945 die erste Generation von jungen Deutschen sein könnten, von denen man möglicherweise verlangt, in einen Krieg zu ziehen. Eine der Folgen dieser Politisierung: Noch nie haben sich so viele junge Männer geweigert, ihren Kriegsdienst zu absolvieren.

Wernigerode, Quedlinburg, Schwedt. In der ganzen ehemaligen DDR kommt den heute 30-Jährigen eine Schlüsselrolle zu. Sie sind die Generation, die noch hinreichend DDR erlebt haben aber gleichzeitig jung genug sind, um das neue Deutschland zu formen. Auch hier ist der Deutungskampf noch im Gange. Soll es deutsch-völkisch, demokratisch, DDR-nostalgisch oder etwas ganz Neues sein? Wie die innere Einheit einmal aussehen wird, hängt ganz entscheidend von dieser Generation mit ab.

Nein, so geschichts- und gesichtslos, wie es manche sehen möchten, ist die Generation der 30-Jährigen zu keinem Zeitpunkt gewesen. Sie ist nur anders als die Generationen der Vergangenheit. Heterogener. War die 68er- und die 78er-Generation bei aller sozialer Differenzierung noch eine, die neben ihrer zeitlichen Nähe zum Nationalsozialismus sich fast ausschließlich aus der westdeutschen Mehrheitsgesellschaft zusammensetzte, ist das bei den um 1970 Geborenen grundlegend anders. Neben der sozialen Differenzierung kommt auf Grund der Migration die der ethnischen hinzu sowie der Ost-West-Gegensatz.

Die Generation Golf spricht sehr unterschiedliche „Sprachen“. Aus diesem vielstimmigen Chor eine gemeinsame Melodie zu komponieren ist zugegebenermaßen etwas schwieriger als 1968, zumal in ihr sehr verschiedene kulturelle und Wertehintergründe einfließen müssen. Gleichzeitig kann sich diese Generation zur Identitätsbildung nicht mehr so einfach auf den Faschismus als Fixpunkt beziehen. Ein Ende der Geschichte ist das aber nicht, eher der Beginn einer spannenden neuen.

Der Generation Golf geht das Heroische ab, aber es mangeltihr nicht anGeschichtsteilhabe

Die „Generation Golf“ ist die erste Generation, die allein auf Grund ihrer demografischen Zusammensetzung gezwungen ist, tragfähige interkulturelle Verkehrsformen zu entwickeln. Auf Vorbilder kann sie dabei nicht zurückgreifen. Ob sie diese Herausforderung bewältigen wird und der Versuchung der Ethnisierung sozialer Konflikte widerstehen kann, auch das ist noch offen.

Geschichtslosigkeit hat auch mit Bewusstlosigkeit zu tun. Tatsächlich fehlen in der Popliteratur der 30-Jährigen die Berichte der sozialen und politischen Kämpfe der „Generation Golf“. Das sagt wenig über die Realitäten, aber viel über die soziale und politische Verortung der Schreibenden aus.

Zu erzählen, zu recherchieren und zu beschreiben gäbe es vieles – heute und auch morgen.

EBERHARD SEIDEL