Gerhard Fitzthum: Auf den Spuren des Klimawandels in den Alpen

Zu den Höhepunkten der taz-Reise in die Gletscherwelten gehört am vierten Tag der leichte Aufstieg von der Bergstation der Pfingstegg-Bahn zur Bäregg-Hütte. Diese Hütte an der Eiger-Ostflanke bietet einen Logenblick auf die Stelle, wo m Jahr 2006 Hunderte von Tonnen Fels zu Tal stürzten. Es war der bisher heftigste Hinweis auf einen Klimawandel in den Schweizer Alpen. Gerhard Fitzthum sprach mit dem Hüttenwart, der die dramatischen Ereignisse der letzten Jahre persönlich miterlebt hat.

Baeregg-Hütte vor den drei Fiescherhörnern im Berner Oberland Bild: Archiv

„Hier hat es damals angefangen“, sagt Ruedi Burgener, und zeigt auf den mit Seilen abgesicherten Tobel. „Plötzlich rollte eine riesige Gerölllawine auf den Sohn des Schafhirten zu. Er konnte gerade noch zur Seite springen!“ Dann sei das Hochtal fast jedes Jahr von einem neuen Unheil heimgesucht worden.

Ruedi ist Bergführer und Hüttenwart und war dabei, als im Sommer 2006 der größte alpine Bergsturz seit Jahrzehnten ereignet hat – vis a vis von seiner 1700 Meter hoch gelegenen, neuen Bäeregg-Hütte an der Eiger-Ostflanke. „Reporter aus aller Welt sind da gewesen – und haben fast immer Unsinn geschrieben, dass der Eiger zusammenbricht etwa, oder dass die Alpen dabei sind, sich aufzulösen."

Ruedi hat sein halbes Leben im Gebirge verbracht und kann über soviel Hysterie nur müde Lächeln. Den Zusammenhang zwischen den Ereignissen am Unteren Grindelwaldgletscher und dem Klimawandel bestreitet allerdings auch er nicht. Dafür sind die Zeichen zu eindeutig.

Auch die Touristiker des Bergsteigerdorfes haben diese Zeichen erkannt und ein beispielloses Projekt aufgelegt: In Zusammenarbeit mit der Universität Bern wurde ein Audioguide für insgesamtsieben Klimalehrpfade der Region entwickelt. Gegen eine Mietgebühr von zwanzig Franken pro Tag erhält der interessierte Gast ein GPS-gestütztes iPhone-Gerät, mit dem er an den topographisch interessantesten Punkten ausführliche Informationen abrufen kann.

Die eindrücklichste Route führt von der Bergstation der Pfingstegg-Bahn zu Ruedi Burgeners Bäregg-Hütte. Nicht nur steht man hier dem Bergsturzgelände direkt gegenüber, man kann sich auch die Reste der Vorgängerhütte anschauen, die in der Schlucht verschwunden ist. Am spannendsten wird es freilich, wenn man noch ein Stück in Richtung Schreckhornhütte aufsteigt. Nach einer Stunde, in der man sich den schmalen Bergsteig mit freilaufenden Schafen teilen muss, weitet er sich zu einem perfekten Logenplatz - einer grasbewachsenen Bergschulter, von der aus man Mönch, Schreckhorn und Fiescher Horn zugleich sieht.

Blick von derö Bäregg-Hütte auf die ehemalige, jetzt Eis freie Gletscherzunge des Unteren Grindelwaldgletschers; der Felssturz ereignete sich im Tal rechts vom Bildausschnitt. Bild: Archiv

Das ewige Eis des Unteren Grindelwaldgletschers liegt nun genau gegenüber, zum Greifen nah. Hier wird man Zeuge eines Naturschauspiels, das einen nachdenklich werden lässt: Fast im Viertelstundentakt brechen große Eispakete ab und stürzen mit lautem Getöse auf den Gletscherfuß. Bergführer Jürg Meyer schaut sorgenvoll hinüber: „Vor wenigen Jahren war dieser Felsen dort noch ganz mit Eis bedeckt. Jetzt wird die Bleiche jedes Jahr größer – ein Prozess, der nicht mehr aufzuhalten ist.“

Jürg Meyer war langjähriger Umweltbeauftragter des Schweizer Alpenclubs (SAC) und weiß, wovon er redet. Nun hat er sich der Berner selbstständig gemacht und führt Gruppen nicht nur auf Gipfel, sondern auch zu den Schlüsselstellen des alpinen Klimawandels. Rund um die Bäregg-Hütte gibt es für ihn am meisten zu sehen:

„Das Tal der Weißen Lütschine ist eine wilde, faszinierend urtümliche, aber auch beängstigende Experimentierküche der Klimaerwärmung: Da ist das Tosen des Schmelzwassers, das das rasante Abschmelzen der Gletscher hörbar macht, da sind die abbröckelnden Moränen, die Murgangrinnen, der neu entstandene, rätselhafte Gletschersee vor der schuttbedeckten Restgletscherzunge und der halb zusammengestürzte Felsturm an der Eiger-Ostseite. All dieszeugt von den dramatischen Veränderungen, die sich in den Hochalpen derzeit abspielen – verursacht vom Klimawandel, dessen Temperaturanstieg sich in den Alpen besonders stark ausprägt.“

Gerhard Fitzthum, August 2011

siehe auch: Der Berg grollt, der Mensch schaudert. Gerhard Fitzthum in der FAZ vom 15.10.2009 zur touristischen Vermarktung des Klimawandels im Jungfrauengebiet.