Ein Fall für das Tribunal

„Der Begriff ‚Massaker‘ wird von mir nicht verwandt, es steht nur dem Gerichtshof zu, eine Gesamtbewertung vorzunehmen“

von ERICH RATHFELDER

Mit dem Luftkrieg gegen Jugoslawien war Deutschland erstmals seit 1945 an einem Krieg beteiligt. Das hat viele schockiert, die Debatte über den Krieg um das Kosovo ist deshalb bis heute nicht abgeschlossen. Immer wieder wird die Legitimität dieses Kriegs in Zweifel gezogen. Mit dem zweiten Jahrestag der Ereignisse von Račak, einem von Albanern bewohnten Dorf im Süden des Kosovo, in dem am 15. Januar 1999 45 Menschen getötet wurden, ist die Debatte wieder aufgeflammt. Handelte es sich damals um ein Massaker, wie von der Nato und der albanischen Seite behauptet? Oder dienten die Ereignisse lediglich dazu, den Krieg um das Kosovo propagandistisch vorzubereiten, wie die serbische Seite meint?

Die Berliner Zeitung hat am 17. Januar 2001 unter dem Titel „Neues in der Verschlusssache Račak“ die These zu erschüttern versucht, wonach es sich um ein Massaker handelte. Die Autoren zitieren dabei einen bisher nicht veröffentlichten Untersuchungsbericht, der in der kommenden Ausgabe der Zeitschrift Forensic Science International erscheinen soll. Verfasst ist der Beitrag von drei Mitgliedern des finnischen Teams von Gerichtsmedizinern, das damals im Auftrag der EU die Opfer untersuchte. Als Beleg für ihre Skepsis führt die Zeitung an, dass die Leiterin des forensischen Teams, Helena Ranta, sich gegenüber einer (ungenannten) kanadischen Journalistin dahin gehend geäußert habe, dass ihre Recherche die offizielle Version einer Massenhinrichtung nicht untermauere, man also nicht von einem Massaker sprechen könne.

Die Autoren belegen ihre Position auch damit, dass der Bericht des forensischen Teams, der für das Haager Kriegsverbrechertribunal bestimmt ist, geheim gehalten wird. In ihm, so die Journalisten der Berliner Zeitung, die den Bericht eingesehen haben wollen, sei für die Nato Unangenehmes enthalten.

Um die Brisanz der Auseinandersetzung zu verstehen, muss man sich die Vorgeschichte noch einmal vor Augen führen. Lange Zeit hatte die internationale Staatengemeinschaft lediglich mit diplomatischen Mitteln auf die Protagonisten des Kosovokonflikts eingewirkt und war gerade deshalb in die Kritik geraten. Nach der Abschaffung des Autonomiestatus des Kosovo im Jahre 1989 war die albanische Bevölkerung in eine Apartheidsituation gedrängt. Ihr gewaltfreier Protest blieb folgenlos, bei den Friedensverhandlungen von Dayton über Bosnien und Kroatien wurde das Kosovo-Problem ausgeklammert.

Vielen jungen Kosovo-Albanern galt seither die Strategie der Gewaltfreiheit als obsolet, die Kosovo-Befreiungsarmee (UÇK) formierte sich Ende 1997. Die serbische Seite reagierte mit brutaler Gewalt durch Polizei und Sondereinheiten der Armee. Insgesamt wurden während des Sommers 1998 mindestens 250.000 Menschen vertrieben und Hunderte von Dörfern zerstört. Rund 2.000 Menschen starben.

Die Staatengemeinschaft beschränkte sich trotz dieser Ereignisse auf Protestnoten und den Versuch, durch Verhandlungen eine friedliche Lösung herbeizuführen. Seit Sommer 1998 kam es zu einer Pendeldiplomatie der Unterhändler Wolfgang Petritsch und Chris Hill. Nach Gesprächen mit dem US-Diplomaten Richard Holbrooke lenkte Jugoslawiens Präsident Slobodan Milošević ein und erlaubte den Einsatz von OSZE-Beobachtern im Kosovo.

Im Herbst beruhigte sich die Lage etwas. Vereinzelt kehrten Vertriebene in ihre zerstörten Dörfer zurück. Mit den Ereignissen in Račak jedoch wurde die Unzulänglichkeit der OSZE-Mission deutlich, die internationale Gemeinschaft konnte Račak nicht verhindern, viele Stimmen drängten auf härtere Maßnahmen gegen Milošević.

Das Ereignisse von Račak am 15. Januar 1999 bildeten zweifellos den Wendepunkt im Verhalten der internationalen Gemeinschaft zum Kosovokonflikt. Als die Bilder von den Opfern im Graben von Račak um die Welt gingen, als der damalige Chef der OSZE-Mission William Walker, erschüttert von dem Anblick von „mehr als 20 Männern, die offensichtlich exekutiert worden waren“, von einem „schrecklichen Verbrechen“ sprach, war das der Tropfen, der das Fass zum Überlaufen brachte.

Das Dorf Račak liegt etwa eineinhalb Kilometer südlich der Straße von Priština nach Prizren am Rande eines Gebirgszugs, wo die serbischen Truppen eine Basis errichtet hatten. Die von Albanern bewohnten Dörfer entlang der Straße und die in der Nähe liegende Stadt Stimlje waren schon im Sommer 1998 „gesäubert“ worden, die Bevölkerung war in die Wälder geflohen und hatte von dort aus versucht, in die Städte oder nach Makedonien zu gelangen.

Die Absicht hinter dem serbischen Vorgehen lag auf der Hand: Polizei und Armee wollten unbedingt die wichtige Straße zwischen Priština und Prizren „sichern“. Vermutlich, weil seit Herbst 1998 ins südlich der Straße liegende Gebirge UÇK-Kämpfer eingedrungen waren, gingen die serbischen „Sicherheitskräfte“ am 15. Januar 1999 gegen das Dorf Račak vor: Polizei und Militär näherten sich dem Dorf, Schüsse fielen.

Am nächsten Tag wurden 45 Tote gezählt. Neben den von William Walker genannten Männern, die in einem Graben lagen und nach Angaben der OSZE aus nächster Nähe erschossen worden waren (s. Kasten), handelte es sich vor allem um alte Leute, die an zwei weiteren Stellen gefunden wurden. Auch drei Frauen und ein 12-jähriges Kind befanden sich unter den Opfern.

Unstrittig ist, dass alle Opfer erschossen worden waren, manche von ihnen mit mehreren Kugeln. Sie wurden nach Eintreffen der OSZE-Beobachter in Račak in die Dorfmoschee gebracht. Journalisten und andere Beobachter konnten die Leichen dort sehen. Drei Tage später überführten serbische Behörden 40 der Leichen nach Priština. Dort wurden sie von serbischen und weißrussischen Gerichtsmedizinern untersucht. Erst knapp eine Woche nach den Ereignissen trafen die unabhängigen, von der EU bestellten Experten aus Finnland ein.

Die serbische Seite leugnet bis heute, dass es in Račak zu einem Massaker gekommen ist. Es habe sich lediglich um eine Militäraktion gegen „Terroristen“ gehandelt, jeder Staat der Welt hätte genauso gehandelt, hieß es in Belgrad. Man habe 15 UÇK-Kämpfer erschossen. Erst im Nachhinein seien die Kleider vieler der Opfer ausgetauscht worden, um sie als Zivilisten erscheinen zu lassen. Die serbischen und weißrussischen Experten erklärten, einige der Opfer hätten Schmauchspuren an ihren Händen gehabt, seien also Kämpfer der UČK gewesen. Nach Ansicht der serbischen Experten gab es keine Spuren, die bewiesen hätten, dass die Menschen aus nächster Nähe getötet worden waren.

Serbische Experten sagten, einige der Opfer hätten Schmauchspuren an den Händen aufgewiesen, seien also UÇK-Kämpfer gewesen

Die albanische Seite hat nach den Ereignissen eingeräumt, sieben Männer seien als Kämpfer der UÇK bei Račak gefallen; diese seien jedoch beerdigt worden. Die gefundenen Leichen seien allesamt die von Zivilisten gewesen. In den westlichen Hauptstädten stand schon kurz danach fest: In Račak hat ein Massaker stattgefunden, die internationale Gemeinschaft muss jetzt handeln.

Indem Račak zu einem Symbol für die Legitimation des Bombenkriegs gegen Jugoslawien wurde, ist dem finnischen Expertenteam eine große Verantwortung aufgebürdet worden. Die Ergebnisse seiner Nachforschungen sind damit ins Zentrum des Interesses gerückt. Helena Ranta hat in der Tat zwei Berichte vorgelegt: einen veröffentlichten und einen geheimen. Am 17. März 1999 berichtete sie der EU über die ersten Ergebnisse der Untersuchungen von 40 Opfern. Darin heißt es: „Die meisten Opfer trugen mehrere warme Jacken und Pullover. In den Taschen wurde keine Munition gefunden. An der Kleidung befanden sich keine Rang- oder sonstigen Erkennungszeichen einer militärischen Einheit. Es gab keinen Hinweis darauf, dass Rang- oder Erkennungszeichen entfernt wurden.“

Helena Ranta widersprach in dem Bericht den serbischen Angaben, wonach man den Toten andere Kleidung angezogen hatte und sie Schmauchspuren an ihren Händen aufwiesen. „Die Autopsieergebnisse und die Fotos vom Ort des Geschehens lassen den Schluss zu, dass Kleidungsstücke höchstwahrscheinlich weder gewechselt noch entfernt wurden.“ Schmauchspuren, die hätten beweisen sollen, dass es sich um UÇK-Kämpfer handelte, die selbst geschossen hatten, konnten das finnische Team damals nicht feststellen. Auch deshalb nicht, weil die serbischen Mediziner, wie Ranta in ihrem ersten Bericht angibt, schon vor Eintreffen des finnischen Teams die Hände der Opfer dem veralteten und ungenauen Paraffintest unterzogen hatten und somit eine unabhängige Untersuchung mit moderneren Methoden erschwert war.

Im Herbst 1999 und im März 2000 konnte das Team weitere Untersuchungen durchführen. Im Juni 2000 legte Helena Ranta einen weiteren Bericht vor, der für das Tribunal in Den Haag bestimmt ist und u. a. aus Zeugenschutzgründen nicht veröffentlicht wird.

Ranta äußerte sich gegenüber der taz sehr vorsichtig über den Gang der Dinge. Sie will keinesfalls eine politische Bewertung der Ereignisse von Račak vornehmen. Wörtlich erklärte sie: „Der Begriff ‚Massaker‘ wird von mir nicht verwandt. Es steht nur dem Gerichtshof zu, eine Gesamtbewertung vorzunehmen. Die Autopsieberichte, die Untersuchung der Umstände, die Befragung der Überlebenden und die Augenzeugen werden uns der Wahrheit so nahe bringen wie irgendwie möglich. Aber allein der Gerichtshof hat die Beweise zu bewerten, nicht ein einzelner Forscher.“ Nur das Kriegsverbrechertribunal in Den Haag wird folglich ein endgültiges und alle überzeugendes Urteil über die Ereignisse in Račak abgeben können.