Nominierte 2005: Esther Mujawayo: Tatkräftig gegen die Folgen des Genozids

Esther Mujawayo setzt sich für Witwen in Ruanda ein.

Bild: Andrea Baumgartl

Esther Mujawayo war noch ein Baby, als sie auf dem Rücken ihrer Mutter vor den Peinigern geflohen ist. Das war 1959 in Ruanda. 35 Jahre später entkam sie mit ihren drei Töchtern - die kleinste als Baby auf dem Rücken - erneut den Morden an den Tutsi durch den feindlichen Hutu-Stamm. "So wiederholt sich die Geschichte", sagt die 47-Jährige. Dem Genozid fielen zwischen April und Juli 1994 ihr Mann, ihre Eltern, weitere Familienangehörige und viele Freunde zum Opfer.

800.000 Menschen wurden beim größten Völkermord nach dem Zweiten Weltkrieg getötet, meist auf bestialische Weise. Und die internationale Gemeinschaft intervenierte nicht. "Wir konnten uns damals nicht vorstellen, dass es so schlimm kommen würde und dass die westliche Welt den Massakern tatenlos zusieht", sagt Esther Mujawayo. "Und gerade werden wir zum zweiten Mal im Stich gelassen." 50 Prozent der Frauen in Ruanda sind Witwen, 80 Prozent wurden damals vergewaltigt, mehr als die Hälfte der Frauen, die überlebt haben, sind HIV-infiziert.

Avega hilft, die Tränen zu trocknen

Fremde Unterstützung gelangt nur spärlich in das afrikanische Land. "Die Frauen brauchen Medikamente und therapeutische Betreuung", erklärt Mujawayo, die direkt nach dem Genozid mit 50 weiteren Witwen die Organisation Avega (Association des Veuves du Génocide d'Avril) gegründet hat. Heute ist Avega mit mehreren Beratungsbüros im Land vertreten. "Die meisten Frauen standen nach dem Ereignissen am Rande des Wahnsinns, viele hatten alles verloren. Wir wollten mit Avega helfen, die Tränen zu trocknen und eine Art Ersatzfamilie zu sein."

Avega kümmert sich auch um Kinder, Waisen, alte und behinderte Menschen. Esther Mujawayo fand mit ihren drei Töchtern 1994 Zuflucht in einer Schule, später im Hotel "Mille Collines". Die Geschichte dieses Hotels, in dem über 1.000 Tutsi den Massenmord überlebten, erzählt der Film "Hotel Ruanda", der auf der diesjährigen Berlinale gezeigt wurde. Esther Mujawayo hat den Film gesehen: "Ich habe zwar einiges an ihm auszusetzen - er ist einfach zu amerikanisch -, aber die Tatsache, dass wir von den Blauhelmen hilflos zurückgelassen wurden, ist sehr realistisch dargestellt."

Ihr sei schließlich jedes Mittel recht, das die Ereignisse von damals und damit auch die heutige Situation in Ruanda wieder ins Bewusstsein der Öffentlichkeit rückt. Mujawayo lebt seit sechs Jahren in Deutschland. Sie hat einen deutschen Pfarrer geheiratet und wohnt in der Nähe von Düsseldorf. Nach einer Ausbildung zur Psychotherapeutin arbeitet die studierte Soziologin im Psychosozialen Zentrum in Düsseldorf, wo traumatisierte Flüchtlinge betreut werden. 

Unübersehbarer Lebensmut

Darüber hinaus engagiert sie sich unablässig für Avega: Sie sammelt Spenden für ihre Organisation und fährt regelmäßig nach Ruanda, um vor Ort zu helfen. Zudem hält sie Vorträge auf internationalen Konferenzen, um auf die Situation in ihrem Heimatland aufmerksam zu machen. Nach allem, was Esther Mujawayo selbst erlebt hat, erstaunt ihre Kraft, sich derart für andere einzusetzen. "Ich habe sehr schnell nach dem Massaker gemerkt, dass ich mich dem widmen muss, was mir geblieben ist", erklärt sie. "Mir blieben drei Töchter, ein gesunder Körper und ein Kopf zum Nachdenken, das ist doch eine ganze Menge", sagt sie und lacht.

Ihr Lebensmut ist unübersehbar. Geholfen habe ihr auch, dass sie viel über die schrecklichen Geschehnisse gesprochen hat. "Reden, reden, reden - das empfehle ich auch den Frauen, die ich betreue", sagt sie. Sie selbst hat inzwischen ihre Erlebnisse als Buch veröffentlicht. Der Titel: "Ein Leben mehr" (Peter Hammer Verlag). Gewidmet hat sie es einer jungen Frau, die mit vierzehn Jahren vergewaltigt wurde und fünf Jahre später an Aids starb.

Vor kurzem startete Esther Mujawayo ein neues Projekt. "Eine Kuh für jede Witwe" - unter diesem Motto ruft sie zu Spenden auf. "Kühe sind in Ruanda ein wichtiger Wirtschaftsfaktor", erklärt sie. "Sie gibt Milch, produziert Dünger, beackert das Feld - und leistet Gesellschaft, das darf man nicht vergessen. Die meisten Frauen sind allein. Wäre ich reich, ich würde jeder Witwe in Ruanda eine Kuh kaufen." Und Esther Mujawayo lacht wieder.

Jutta Heeß