„Mit dem Lächeln der Freiheit“

Interview BETTINA GAUS
und EBERHARD SEIDEL

taz: Gibt es einen Teil Ihrer politischen Biografie, an den Sie heute nicht mehr so gerne zurückdenken?

Daniel Cohn-Bendit: Nein. Den gibt es nicht. Es gibt Teile meiner Biografie, die ich für besser halte als andere, aber ich glaube, das geht jedem so.

Können Sie das präzisieren?

Ich glaube, dass wir als linke Bewegung immer dann besser waren, wenn wir gehandelt und gelebt haben, als wenn wir geschrieben haben. Anders formuliert: unsere emotionalen Beweggründe, für Freiheit und Demokratisierung zu kämpfen, waren stärker als die ideologischen Versatzstücke, die wir gebraucht haben, um das zu legitimieren.

Nun wird aber der Studentenbewegung und ihren Nachfolgeorganisationen ja gerade aus Teilen ihres Handelns ein Vorwurf gemacht.

Derzeit wird unser Handeln in dieser Zeit auf die Teilnahme an Demonstrationen reduziert. Wir haben aber in Milieus gelebt, die von Alltagsdiskussionen über das eigene Ich und die Form des Zusammenlebens mit anderen geprägt waren. Wir haben versucht, ein richtiges Leben im falschen zu führen. Das Falsche war der Kapitalismus. Wir wollten die Gegengesellschaft entwerfen.

Sie wollten den Imperialismus bekämpfen und den Kapitalismus überwinden. Haben Sie diese Ziele erreicht?

So viel ich weiß, hat der Kapitalismus gewonnen. Ich selbst bin übrigens in Frankreich von einer anarchistischen Gruppe sozialisiert worden, die sowohl radikal antikapitalistisch als auch antikommunistisch gewesen ist. Zurück zu Ihrer Frage. Der Imperialismus ist zurückgeschlagen worden. Er ist in Vietnam geschlagen worden, ganz entscheidend von der protestierenden Jugend in den USA und in der Welt. Militärisch hätte der Vietcong nie gewinnen können. Die Niederlage des Imperialismus war eine moralische. Und der russische Imperialismus ist ebenfalls zurückgeschlagen worden.

Hat sich damit der Kampf gegen den Imperialismus erledigt?

Nein. Aber der Imperialismus ist heute anders zu beschreiben. Angesichts der Globalisierung haben wir es heute mit einer Uniformierung der Welt zu tun, die demokratische Potenziale und Entwicklung weltweit gefährdet. Die Demokratie in der Welt kann nicht existieren, wenn eine Macht alleine bestimmen kann, was richtig und was falsch ist.

Vor 30 Jahren waren die Zentren des Imperialismus klar definiert. Wie würden Sie es heute beschreiben?

Ich würde heute den Begriff Imperialismus lieber vermeiden, weil er in so starkem Maße historisch besetzt ist. Leider habe ich keinen neuen Begriff, dennoch verkürzt er leider einfach die Gedanken in den Köpfen. Aber gut: Wir haben heute einen Imperialismus, der geprägt wird von der inneren Logik des kapitalistischen Systems und dessen Expansion. Den Zwang der Märkte, sich auszuweiten und die Welt uniform zu gestalten, nennt man Globalisierung. Darauf gilt es eine Antwort zu geben.

Warum halten Sie es heute für Erfolg versprechender, dagegen im Parlament zu kämpfen als auf der Straße?

Das habe ich nicht gesagt.

Aber Sie sitzen heute im Parlament und sind kein Straßenkämpfer mehr.

Ich glaube, dass es legitim ist, auf der Straße gegen eine bestimmte Form der Globalisierung zu kämpfen und deren zerstörerische Kräfte anzuprangern. Die Frage ist nur: wie kann man diese Globalisierung reformieren? Dafür muss man parlamentarische Mehrheiten finden. Ich bin überzeugt, dass es uns nur gelingen kann, diese entfesselten und zum Teil unmenschlichen Globalisierungsbedingungen zu stoppen, wenn Europa ein schlüssiges Konzept zur Reform der Globalisierung findet.

Haben junge, politisch interessierte Menschen heute weniger Recht auf Irrtum als seinerzeit Sie und Ihre Mitstreiter?

Es ist heute schwieriger, jung zu sein, als zu unserer Zeit. Wir konnten mit dem Lächeln der Freiheit den größten Unsinn sagen. Einige haben die chinesische Kulturrevolution zum Inbegriff der Freiheit erklärt, mit all ihren Hunderttausenden von Toten, oder in Kuba und Vietnam Inseln der Befreiung gesehen. Das muss man sich mal vorstellen! Ich meinerseits habe das „Richtige“ in revolutionären geschichtlichen Situationen gesucht und gesehen: Rätebewegung, das libertäre Katalonien, die ungarische Revolution 1956.

Das war ganz falsch?

Es war falsch, diese totalitären Staaten als Orte der Freiheit zu sehen. Es war richtig, diese Orte zu suchen. Unser Problem war, dass wir unseren Durst nach Freiheit nirgendwohin projizieren konnten. Inzwischen ist es Allgemeingut, dass alle Versuche der real existierenden Sozialismen in Sackgassen geführt haben. Es gibt heute keine Alternative zum Bestehenden, die real irgendwo existierte, sondern allenfalls im Kopf. Aber man muss den Menschen irgendeine Alternative konkret beschreiben können, entweder in einem Land oder in der Geschichte. Das macht es für junge Leute heute schwer.

Aber der Kapitalismus ist ja auch nicht der Ort der Utopie.

Zunächst einmal hat er gegen seinen großen Herausforderer, nämlich gegen den totalitären Sozialismus, gewonnen. Jetzt steht er alleine zur Debatte. Aber das bedeutet eben nicht das Ende der Geschichte. Für mich stellt sich die Frage: wie können wir zeigen, dass dieses System nur für eine Minderheit in der Welt funktioniert? Wenn die ganze Welt mit diesem Rhythmus der Produktion überzogen wird, dann klappt vermutlich die Erde zusammen – schon allein wegen der Klimakatastrophe. Der Kapitalismus zeigt sich als unfähig, eine Antwort zu finden, die für die Mehrheit der Weltbevölkerung funktioniert.

Und mit dieser Erkenntnis fühlen Sie sich bei den Grünen gut aufgehoben?

Es gibt bei den Grünen ein Bewusstsein, dass die Betonung der ökologischen Frage eine Überwindung der traditionellen kapitalistischen Denk-und Argumentationsweise ist.

Handelt es sich dabei nicht um die Forderung nach Modernisierung der kapitalistischen Produktionsweise?

Zunächst einmal: Wenn man an der Regierung ist, dann ist man auch Teil des Systems. Das zu leugnen wäre absurd. Gleichzeitig behaupte ich, dass man auch in dieser Situation den Kapitalismus reformieren kann. Auch die Klassenkämpfe haben im Ergebnis den Kapitalismus immer modernisiert.

Sie glauben also, dass grüne Abgeordnete wie Christine Scheel, Margareta Wolf und Oswald Metzger den Kapitalismus überwinden wollen?

Sie schlagen durch die Form, in der sie bestimmte Fragen aufgreifen, eine Reform vor. Heute ist eine Reform des Kapitalismus nicht mehr einfach durch eine andere staatliche Politik möglich. Deshalb haben auch ökolibertäre Ansätze ihre Berechtigung, so lange sie nicht alleine stehen. Meine Kritik besteht eher darin, dass der Anspruch nicht mehr sichtbar wird, diesen entfesselten Kapitalismus auch im Weltmaßstab reformieren zu müssen. Diese Kritik übe ich auch an Joschka Fischer. Ich glaube, dass nach der Phase des Nachweises, dass Grüne traditionelle Außenpolitik machen können, jetzt die Phase der Innovation kommen muss.

Was heißt das konkret?

Das bedeutet unter anderem eine Neudefinition europäischer Politik. Deshalb haben Joschka und ich einen offenkundigen Dissens in der Bewertung des Ergebnisses der Gipfelkonferenz von Nizza. Ich halte es für eine Katastrophe, und Joschka hält es für das einzig Mögliche unter den gegebenen Bedingungen. Das werden wir öffentlich austragen müssen. Aus meiner Sicht ist mit dieser Regierungskonferenz die Erweiterung der EU unmöglich gemacht worden. Es wird nun ein völlig unüberschaubares und deshalb undemokratisches System geschaffen, und es ist keine Vision mehr erkennbar, wie dieses Europa sich zur Globalisierung verhalten soll. Nizza hat uns leider von einer euopäischen Verfassung entfernt.

Zurück zu den Grünen. Was können Sie heute von jungen Parteifreunden lernen?

Ich lerne im Moment weniger von jungen Grünen als von jungen Menschen insgesamt, die nicht konkret Politik machen wollen, aber dennoch sehr sensibel auf bestimmte Fragen reagieren. Viele junge Grüne haben meiner Meinung nach ein Problem, ähnlich dem der Jusos: Sie haben schon die Perspektive ihrer Karriere im Kopf. Natürlich freue ich mich, wenn junge Leute bei den Grünen mitmachen. Aber ich finde, ihr Bezugsrahmen sollte mehr die Gesellschaft sein als die Innenwelt der Partei.

Weltweit betrachtet gehören Gewaltaktionen der außerparlamentarischen Opposition nicht der Vergangenheit an. Können Sie definieren, wann Sie Gewalt für ein legitimes Mittel des politischen Kampfes halten?

Wir haben lange gebraucht, um das Gewaltmonopol beim demokratischen Staat anzusiedeln. Ich sage: Spontan kann ich alles verstehen. Problematisch wird es, wenn aus einer spontanen Wut eine organisierte Gegenmilitanz zu militärischen Strukturen wird, die damit ihr eigenes Ziel ad absurdum führt. Mein Gott, ja, natürlich – jemand greift dich an, und dann wehrst du dich. Und dann liegt ein Stein auf dem Boden, und dann schmeißt du ihn. Das war der Anfang der Studenrevolte. Aber jede soziale Bewegung hat ein irrationales Element. Das gilt auch für die Arbeiteraufstände, obwohl die Gewerkschaften das heute nicht mehr wahrhaben wollen. Gewalt wird immer dann unerträglich, wenn sie organisiert ist.

Gilt das auch für Tyrannenmord?

Nehmen wir zwei Morde der jüngeren Vergangenheit, die uns zum Nachdenken bringen müssen. Beide hatten politische Auswirkungen. Der Mord an Carrero Blanco [Regierungschef unter Franco, starb 1973 bei einem ETA-Anschlag; A.d.R.] von links hat die Demokratisierung Spaniens beschleunigt. Der Mord an Rabin von rechts hat den Friedensprozess im Nahen Osten gestoppt. Beide Taten haben ihr Ziel erreicht. Der Tyrannenmord ist eine Ausnahme in einer historischen Situation, die es zu berücksichtigen gilt. Was aber auch übrig bleibt nach dem Mord an Carrero Blanco und was erschreckend ist: Die ETA kann nicht aufhören und kann sich aus ihrer mörderischen Logik nicht lösen.

Was ist mit den Nato-Angriffen auf Jugoslawien? Unter Berufung auf übergeordnete Ziele wurde damals ein Bruch des Völkerrechts gerechtfertigt. Wo liegt der prinzipielle Unterschied zum Gesetzesbruch einer außerparlamentarischen Bewegung?

Ich glaube, dass die Problematik der Kosovo-Krise der des Tyrannenmordes vergleichbar ist. Das ist dieselbe Ebene. Beides ist eine Ausnahmesituation. Grundsätzlich muss gelten, dass Militäroperationen von der UNO zu legitimieren sind. Dafür muss allerdings das Veto-Recht einzelner Staaten im Weltsicherheitsrat abgeschafft werden.

Eine letzte Frage. Was bedeutet für Sie Männerfreundschaft?

Ich pflege zu Joschka keine Männerfreundschaft, sondern eine Freundschaft.