Am 19. 1. verschwand Walter Rosenberg

Mit kleinen Gedenkfahnen an einem Haus im Bezirk Schöneberg erinnert die Berliner Künstlerin Karin Sakrowski an die jüdischen Bewohner, die zwischen 1942 und 1944 von den Nationalsozialisten deportiert wurden

von MAJA DREYER
und WIBKE BERGEMANN

Das Haus sticht sofort ins Auge. Das gut erhaltene Jugendstilgebäude aus der Gründerzeit unterscheidet sich deutlich von den umliegenden Fünfzigerjahre-Bauten. „Das Haus schaue ich mir gerne an“, sagt ein Passant. „Es ist das einzige weit und breit, das noch steht von damals.“ Doch obwohl der Mittfünziger gleich um die Ecke wohnt und häufig hier vorbeikommt, hat er die Gedenkfahnen noch nicht gesehen.

Um diese wahrzunehmen, muss man näher treten, durch den kleinen Vorgarten bis an die Haustür herankommen. An dem einen Flügel der Tür sind drei ungefähr dreißig Zentimeter lange Papierstreifen mit Tesafilm angeklebt. „David Goldstrom, 12. 1. 1943, Theresienstadt“ steht auf einem von ihnen mit Wachsfarbe. David Goldstrom hat bis zu seiner Deportation in diesem Haus gelebt.

Karin Sakrowski war damals gerade geboren. Bereits 16-mal kam die Malerin im vergangenen Jahr zu dem Haus in der Heilbronner Straße 3 im Westberliner Bezirk Schöneberg – immer an den Tagen, an denen sich das Verschwinden jüdischer Bewohner jährte. Dann hängte sie eine ihrer Gedenkfahnen auf. Am Freitag wird Karin Sakrowski wieder kommen. Am 19. 1. 1942 wurde Walter Rosenberg von den Nazis abtransportiert. Insgesamt wurden 25 ehemalige BewohnerInnen des Hauses zwischen 1942 und 1944 von den Nazis in Konzentrationslager deportiert.

Das Haus in der Heilbronner Straße war für Karin Sakrowski kein Zufallsgriff. Es liegt mitten im so genannten Bayerischen Viertel, das zur Nazi-Zeit eine besondere Rolle spielte. Mehr als 6.000 Juden wurden hier einquartiert, bevor sie deportiert wurden, meist nach Theresienstadt oder Auschwitz. Zudem ist das Bayerische Viertel in Berlin schon für eine intensive Erinnerungsarbeit bekannt. Seit Anfang der Neunzigerjahre erinnern hier Schilder an Erlasse und Gesetze, die das Hitler-Regime gegen die jüdische Bevölkerung erlassen hat.

„Die Nummer 3 der Heilbronner Straße war bekannt als Judenhaus“, sagt Karin Sakrowski. In den großen Wohnungen lebten zeitweise bis zu 20 Leute zusammen. „Es gab hier auch eine ganz besondere Art von Zusammenhalt. Um sich von dem Grauen abzulenken, organisierten die Bewohner Lesungen und Theateraufführungen.“ Das Fazit, das die Künstlerin aus diesem historischem Hintergrund zieht, ist zugleich die Grundaussage ihrer Fahnenaktion: „Das hätte eigentlich niemand übersehen können.“

Außer den Fahnen erinnert in der Heilbronner Straße 3 nicht mehr viel an die Vergangenheit. Alte Mieter gibt hier es nicht, junge Leute sind eingezogen. Sie interessieren sich nur wenig für die Kulturaktion an ihrer Haustür. Der Finanzberater aus dem zweiten Stock hat „nichts gegen die Schilder“: „Die Leute aus dem Haus lassen die da auch kleben.“ Genaues aber wisse er nicht. Die Frau in dem Tonstudio über ihm hat gerade wirklich keine Zeit. „Aber ich finde das sehr gut, dass die Fahnen da unten aufgehängt sind“, sagt sie.

Karin Sakrowski sucht seit langem nach einem Weg für „künstlerische Erinnerungsarbeit“. 1991 bekam sie durch einen Wettbewerb im Bayerischen Viertel dazu die erste Gelegenheit. Sakrowski nahm teil, gewann zwar nicht, aber begann die Arbeit an ihrem Projekt „Narben und Relikte“. Stellvertretend für das ganze Viertel griff sie die Heilbronner Straße heraus. „Mit der Kirche in der Mitte der Straße und der ruhigen Atmosphäre ist die Gemeinde als solche noch richtig erlebbar. Da kann man sich richtig vorstellen, wie alle weggeschaut haben müssen“, sagt die Malerin.

Zunächst entstanden Holzschnitte in ihrem Atelier – damals noch für jedes Haus einer. Darauf ritzte sie die Namen und Daten der deportierten Bewohner. Zusätzlich arbeitete die Künstlerin Fundstücke in die Tafeln ein. „Das sind ganz unterschiedliche Dinge, die ich im Laufe meiner Arbeit in Berlin aufgesammelt habe.“ Von den Holzschnitten druckte sie die ersten Fahnen. Das Stadtmuseum Berlin kaufte einige, eine Austellung kam jedoch nicht zustande. „Die lagen da in der Schublade, und das hat mich geärgert“, sagt Sakrowski. Sie eröffnete ein Internet-Portal und startete gleichzeitig eine Aufkleber-Aktion mit dem Titel „Erinnerung ist überall“. Doch die „stille Art“ der Aktion in der Heilbronner Straße „passt viel besser zu mir als Künstlerin“. Durch ihre Gedenkfahnen will sie jedem einzelnen Opfer eine Bedeutung geben. „Und mit dem Namen auf der Fahne soll dem Betrachter bewusst werden, dass es jeden hätte treffen können.“

Doch außer den Mietern erreichen die Gedenkfahnen nur wenige Menschen in der Heilbronner Straße. Das Haus steht am Ende der Sackgasse, Geschäfte oder Kneipen gibt es nicht. Nur selten laufen Fußgänger vorbei. Von den Gedenkfähnchen nimmt keiner von ihnen Notiz. Die flattern im Wind, überschlagen sich und sehen bald kaum noch wie Fahnen aus. Eine Frau, die mit ihrem Kinderwagen vorbeigeht, versteht nicht, worum es geht. „Das sieht aus, als hätten Kinder da ihren Schabernack getrieben.“