Andere Spezies tanzen sehen

Bewegung statt Posen: Die Tagung „Moving Thoughts“ lud in Leipzig Choreografen, Tanzwissenschaftler und Tänzer ein, um über die Verbindung von „Tanzen und Denken“ zu reden. Neue Ansätze finden sich bei Philosophen wie Foucault oder Deleuze – und in einem Denken aus dem Körperinneren

von GABRIELE WITTMANN

Tanzen ist Denken. Tanzen ist Handeln. Tanzen ist eine Aktivität, die das schafft, was sie zugleich beschreibt. Ist Denken Tanzen?

Mit dieser wunderbar irritierenden Frage luden drei junge Programmgestalterinnen am Wochenende nach Leipzig, damit sich Choreografen, Dramaturgen, Tanzwissenschaftler und Tänzer gründlich die Köpfe heiß denken konnten über Vorbedingungen ihres Tuns. Denn Tanzen ohne Denken – das war schon immer ein Ding der Unmöglichkeit.

Zum einen, weil das Bewegungsrepertoire, aus dem ein Choreograf schöpft, geprägt ist von seiner Vorstellung von Körper und seiner Beziehung zur Welt. Rudolf von Laban entwarf zu Beginn des vorigen Jahrhunderts ein Raummodell als Würfel mit 27 Bezugspunkten. Gleichzeitig setzte er in diesem System fester räumlicher Ordnung einen neuen Denkparameter: Er wollte die Posen verlassen und dem Tanz zurückgeben, was ihm gehört – das Sein zwischen den Posen, die Bewegung. Damit hat Laban die Stabilität aufgegeben – das Prinzip „off-balance“ im Tanz war geboren. Choreografen wie William Forsythe und Amanda Miller haben dieses Modell später für das postmoderne Ballett genutzt und weiterentwickelt. Mit Hilfe dieses Systems finden sie noch heute immer neue Bewegungen – es ist eine Folie für die Imagination, „eine Quelle immer neuer Kreativität“, schwärmte die Tänzerin Friederike Lampert auf der Tagung: „Denken im Tanz heißt, die Vorstellungskraft zu gebrauchen.“ Doch Vorstellungskraft von was?

Nun hat jedes Denksystem seine eigenen Grenzen eingebaut. So zweifelte Thomas Lehmen an der Brisanz geometrischer Systeme – und an Systemen und Stilen überhaupt: „Im vorigen Jahrhundert kreierten moderne Tänzer einen eigenen Stil. Und in der Folge mussten ihre Schüler eben ‚Graham‘ oder ‚Cunningham‘ lernen. Heute ist ein persönlicher Stil mehr angesagt, heute geht es eher um die Frage: Wie mache ich etwas überhaupt?“

Lehmen ist ein Choreograf aus jener Liga, die modernen und postmodernen Tanz gelernt hat – und daraus nicht schlau geworden ist. Im besten Sinne. Sondern gewieft. Und damit kommen wir zum zweiten Diskussionspunkt von „Tanzen und Denken“: Tanzen ist Denken, weil der Bühnentanz ein dramaturgisches Konstrukt des Choreografen oder Autors ist. Doch welche Rolle spielt heute noch der Autor?

Verschiedene Performances kamen in Leipzig zur Aufführung. Und dabei erwies sich das Konzept der Tagungsinitiatorinnen als erfrischend aktuell: Susanne Traub und Janine Schulze vom Tanzarchiv Leipzig und Heike Albrecht vom Lofft-Theater wählten Beiträge, die sich auf der Grenzlinie zwischen Vorlesung und Bühnenauftritt befinden.

Ein Bühnenstück im klassischen Sinne ist Jérôme Bels „The Last Performance“, ein hervorragend konstruiertes ontologisches Tanzstück, in dem er das Prinzip Theater ad absurdum führt. Immer wieder erscheinen Darsteller und behaupten, sie seien Susanne Linke, Andrew Agassi oder Hamlet: Was ist Identität? Subjekt? Rolle? Bel ist an Körpern nicht mehr interessiert, nur noch an Zeichen. Zeichen, die ihre Originalität und Autorschaft längst verloren haben. Als Konsequenz beauftragte er zuletzt seinen Kollegen Xavier Le Roy – er sollte in seinem Namen eine Choreografie erarbeiten.

Identität und Wiederholung sind Begriffe, die das Denken im Tanz heute stark beschäftigen. Martin Nachbar etwa tanzte in Leipzig seine „Re-Konstruktion“ von Tänzen der Dore Hoyer. Sein „Original“ ist nur ein Video, und seine Re-Konstruktion eine „Konstruktion“, wie er selbst sagt. Doch ist die Wiederholung nicht immer ein Akt der Originalität? Der schwedische Performer und Theoretiker Marten Spangberg zitierte in seiner Performance nur noch Bewegungen aus gängigen Kinofilmen und spielte dabei mit dem kulturellen Körpergedächtnis des Publikums. Wie sagte er doch gleich: „Es ist immer spannend, in Science-Fiction-Filmen andere Spezies tanzen zu sehen: Es ist immer eine Mischung aus Jive, seltsamen Volkstänzen, und Techno. Warum: Weil wir Tanz als Tanz irgendwie erkennen müssen.“

Doch wer diese Bezugspunkte für den Tanz wie denkt, das ist noch längst nicht ausgehandelt. „Diese Konferenz hat sich stark auf jene Choreografen konzentriert, die Diskurse pflegen, die mit unserer Welt hier und heute zu tun haben – und mit anderen Kunstformen“, resümierte Marten Spangberg. In der Tat: Philosophische Denkmodelle etwa von Foucault oder Deleuze sind augenblicklich wichtig für eine Entwicklung des Denkens im Tanz. Aber möglicherweise verstellen sie den Blick auf eine viel interessantere Denkweise: eine Denkweise, die aus dem Denken des Körperinneren erfolgt und jegliche Dualität überwindet.