Auf dünnem Eis

Die Klimamodelle basieren nach wie vor auf schwachen Zahlen. Besonders um die Frage, welchen Einfluss die veränderten Sonnenaktivitäten auf die Erdtemperatur haben, wird heftig gestritten

von KENO VERSECK

Am 2. August 1962 gaben sich die US-amerikanischen Atom-U-Boote „Skate“ und „Seadragon“ ein Stelldichein besonderer Art: An einer eisfreien Stelle über dem Nordpol tauchten die beiden Ungetüme auf. Die Besatzungen feierten das Treffen eines U-Bootes der US-Atlantik- und der US-Pazifikflotte am Nordpol mit dem Austausch von Flotteninsignien.

Im August dieses Jahres fuhren Touristen auf dem russischen Eisbrecher „Jamal“ in Richtung Nordpol. Aus dem Höhepunkt ihrer arktischen Kreuzfahrt, einem Ausstieg am Nordpol, wurde nichts. Am Pol gab es statt Eis nur ein großes Wasserloch. Genauer: eine breite, mehrere Kilometer lange Rinne, die großenteils mit einer dünnen, durchsichtigen Schicht Eis bedeckt war – so wie 28 Jahre zuvor, als sich die „Skate“ und die „Seadragon“ am Nordpol getroffen hatten. Enttäuschte Mitreisende alarmierten die Presse. Am 20. August meldeten Nachrichtenagenturen in aller Welt: „Nordpol nach 50 Millionen Jahren zum ersten Mal eisfrei“.

Korrekturen dieser Zahl erschienen so gut wie keine. Dabei kommt es oft vor, dass das zum Teil nur wenige Meter dicke Eis in der Nordpol-Gegend bei günstigem Zusammenspiel von Wasserströmungen und Eisstruktur aufbricht und sich vor allem im Sommer Wasserstellen bilden.

Das Beispiel ist symptomatisch. Medienberichte zu ungewöhnlichen Wettersituationen enthalten zunehmend alarmierende Kommentare über den Klimawandel. Viele Forscher fühlen sich in ihren Aussagen missverstanden. „An Einzelereignissen lässt sich nichts festmachen“, sagt der Klimaforscher Mojib Latif vom Max-Planck-Institut für Meteorologie in Hamburg. „Sie können Anzeichen für eine langfristige Entwicklung sein. Im Falle des Nordpols heißt das: Wir beobachten, dass das arktische Eis dünner wird. Dadurch kann es öfter aufbrechen. Das könnte den Klimawandel anzeigen.“

Freilich spiegelt das mediale Ereignis Klimawandel oft nur wider, dass die Unsicherheit in der Forschergemeinde groß ist. Nach jahrzehntelangen Forschungen gibt es eine Vielzahl Daten, Einzelerkenntnisse, erklärbare Teilzusammenhänge, immer kompliziertere Modellrechnungen. Doch das irdische Klima ist ein schwer berechenbares System. Die Prognosen zum globalen, regionalen und lokalen Klimawandel nennt der Meteorologe Martin Claussen vom Potsdam-Institut für Klimafolgenforschung ein „stufenweises Zuspitzen der Ungenauigkeit“, je nachdem wie weit die Interpretation von Daten ins Detail ginge.

Zwar ließe sich feststellen, so Claussen, dass die menschenverursachte Veränderung in der Chemie der Atmosphäre, vor allem ihr steigender CO2-Gehalt, das Klima offenbar verstärkt in Richtung einer Erwärmung beeinflusse. Doch exakte Angaben ließen sich nicht machen: „Vor einigen Jahren geisterte eine Zahl umher, die besagte, mit einer geschätzten Wahrscheinlichkeit von 95 Prozent sind die Klimaänderungen, die wir erleben, nicht natürlichen Ursprungs. Der Trick war der Begriff geschätzte Wahrscheinlichkeit, denn der Fehlerkoeffizient bei der Schätzung der Wahrscheinlichkeit wurde nicht bekannt gegeben.“

Schon Basisdaten in der kaum überschaubaren Anzahl von Forschungarbeiten kommen oft zu verschiedenen Ergebnissen. Das Eis in vielen Erdregionen schmilzt langsam, sind sich Wissenschaftler einig. Wie lange schon und in welchem Maße, darüber gehen die Angaben erheblich auseinander. Im März letzten Jahres stellten US-Forscher anhand von Satellitendaten fest, dass Grönlands Eis langsamer schmilzt als angenommen. In diesem Jahr kamen US-Berichte zu einem umgekehrten Ergebnis.

Unklar ist ebenso, ob und in welchem Maße der Meeresspiegel steigt. So fand letzten Monat eine australische Wissenschaftlergruppe aufgrund von Daten der letzten neun Jahre heraus, dass der Meeresspiegel im Südostpazifik bislang nicht angestiegen sei. Ein von der Südostasien-Staatenkooperation SAARC finanzierter Bericht stellte ebenfalls letzten Monat fest, dass der Meeresspiegel an den Küsten einiger südostasiatischer Staaten in den letzten Jahren um bis zu 10 Millimeter gestiegen sei.

Die Berichte des „Intergovernmental Panel on Climate Change“ (IPCC), des weltgrößten Klimaschutzforums, an denen tausende Wissenschaftler jeweils jahrelang arbeiten, geben eine Art Mehrheitsmeinung der Klimaforscher wieder. Der Bericht für 2001, aus dem in Anbetracht der 6. Weltklimakonferenz in Den Haag nächste Woche bereits einige wenige Einzelheiten bekannt wurden, betont, dass viele Aspekte der globalen Erwärmung unklar bleiben und dass bisher kein Zusammenhang zwischen extremen Wettersituationen der letzten Jahre und der globalen Erwärmung ausgemacht werden konnte.

Das IPCC geht davon aus, dass: – der CO2-Gehalt in der Atmosphäre einen Höchststand der letzten 400.000 Jahre erreicht hat, – die letzten zehn Jahre die wärmsten seit tausend Jahren waren, – die globale Mitteltemperatur bis 2100 um 1,5 bis 6 Grad Celsius und der Meeresspiegel um 14 bis 80 cm steigen werden.

Die Unterschiede in den Prognosewerten erscheinen klein, sind in Wirklichkeit aber riesig. Aus ihnen kann für verschiedene Regionen ein kompletter Klimaumschlag folgen. Für Nord-, Mittel- und Westeuropa etwa könnte eine globale Erwärmung unter Umständen eine neue Eiszeit bedeuten. Nämlich dann, wenn das Schmelzen des arktischen und Grönland-Eises dem Nordatlantik große Mengen Frischwasser zuführt und so das Golfstrom-System ablenkt, die Warmwasserheizung Europas.

Als großes Problem in der Klimaforschung sieht die Stratosphärenphysikerin Karin Labitzke von der FU Berlin, dass für Klimamodellberechnungen oft zu wenig Datenmaterial vorhanden ist und in ihnen bestimmte Einflüsse zu wenig oder gar nicht berücksichtigt werden. Einer der in Berechnungen wenig berücksichtigten Faktoren, deren Einfluss auf das Klima auch Karin Labitzke erforscht, ist die Sonne.

Ihre Aktivität schwankt unter anderem in einem Elf-Jahres-Zyklus, zu erkennen an den Sonnenflecken, die sich im Aktivitätsmaximum auf ihr bilden. Befindet sich die Sonne in einem Maximum, treffen im Schnitt etwa 0,1 Prozent mehr Energie auf die Erdatmosphäre, darunter vor allem mehr UV-Strahlung.

Karin Labitzke hat in ihren Arbeiten anhand von Daten der letzten vier Jahrzehnte statistische Zusammenhänge zwischen dem Sonnenfleckenzyklus und dem Stratosphärenwetter festgestellt. „Mehr UV-Strahlung bildet mehr Ozon, Ozon absorbiert andere Strahlung, dadurch erwärmt sich die Atmosphäre, jede Temperaturänderung bringt eine Windänderung, das ändert die Zirkulation. Das ist wie in einem Uhrwerk, wo alles ineinander greift. Noch nicht erforscht ist, wie sich das alles auf die unteren Atmosphärenschichten auswirkt, wo unser Wetter herrscht. Aber ich bin mir sicher, dass es da einen Einfluss gibt.“

Nach Zusammenhängen zwischen der Sonnenaktivität und dem Erdklima sucht auch der dänische Physiker Henrik Svensmark. Er hat durch Satellitenmessungen herausgefunden, dass sich die Wolkenmenge in den unteren Atmosphärenschichten mit der Menge der kosmischen Strahlung ändert. Diese Strahlung besteht aus sehr energiereichen Elementarteilchen, die unter anderem aus Sternexplosionen stammen und aus den Weiten des Alls in das Sonnensystem eindringen. In der Erdatmosphäre bewirken sie eine Ionisation von Teilchen, also eine Aufspaltung von neutralen Atomen oder Molekülen in elektrisch geladene Teilchen. Bei stärkerer Ionisation der Atmosphäre bilden sich mehr dichte, tief hängende Wolken.

Die Sonne wiederum beeinflusst das Eindringen der kosmischen Strahlen durch ihr Magnetfeld, das sich bis weit über die äußeren Planeten ausdehnt und wie ein Schild funktioniert. Je aktiver die Sonne, desto stärker ist auch ihr Magnetfeld, desto mehr kosmische Strahlung hält es ab, und umgekehrt. Eine Folge dieses Mechanismus könnte ein Kühleffekt sein: Vor allem dichte, tiefe Wolken reflektieren Sonnenstrahlung in den Weltraum zurück, während dünne, hohe Wolken eher Strahlung durchlassen und zur Aufheizung der Erdatmosphäre beitragen. Doch Henrik Svensmark ist nicht nur hierbei, sondern sogar in Bezug auf seine Beobachtungen vorsichtig: „Es gibt noch keinen wirklichen Beweis, sondern nur starke Indizien für den Zusammenhang von kosmischer Strahlung und Wolkenbildung.“

Der Einfluss der Sonne auf das irdische Klima ist in der Forschung umstritten. Manche Klimaforscher reagieren geradezu allergisch auf das Thema. Andere haben den Faktor Sonne in den letzten Jahren in ihre Forschungen einbezogen. „Aus Modellen und Experimenten, die durchgespielt wurden“, so Martin Claussen, „lässt sich ableiten, dass vermutlich 25 bis 30 Prozent der Erwärmung in diesem Jahrhundert auf die geänderte Sonnenaktivität zurückzuführen ist.“

Der Sonnenphysiker Bernhard Fleck, der an der europäisch-amerikanischen Satellitenmission „Solar- und Heliosphären-Observatorium“ (SOHO) mitarbeitet, verweist auf die Zeit am Ende des 17. Jahrhunderts, als es kaum Sonnenflecken gab und es zugleich besonders kalt war – das so genannte Maunder-Minimum: „Damals fror die Themse zu, was wir dann nie wieder erlebt haben. Es könnte ja sein, dass das kein Zufall ist. Wissenschaftlich halte ich es für vertretbar zu sagen, dass unser Klima sich heutzutage hauptsächlich menschengemacht verändert, dass aber die Sonne immer noch eine große Rolle spielt.“

Das Thema Sonnenaktivität und Erdklima ist in jedem Fall hochkontrovers. Fachzeitschriften der Kohle- und Ölindustrie stellen Beobachtungen wie die von Henrik Svensmark oder anderen Forschern hin und wieder als Beleg dafür dar, dass die Verbrennung fossiler Energieträger nicht für den Klimawandel verantwortlich sei. Betroffene Forscher wiederum fühlen sich zu Unrecht in Misskredit gebracht.

Davon kann auch die FU-Forscherin Karin Labitzke berichten: „Der Einfluss der Sonne ist in Deutschland ein Tabuthema. Obwohl wir nicht bestreiten, dass der Mensch seit der industriellen Revolution das Klima stärker beeinflusst als die Sonne, wird uns vorgeworfen, dass wir gegen das Energiesparen sind, wenn wir vom Einfluss der Sonne auf das Klima reden. Dabei ist es im Gegenteil ein Argument für das Energiesparen. Angenommen, die Effekte der Sonnenaktivität und des erhöhten CO2-Ausstoßes addieren sich in Richtung Erwärmung, dann sollten wir auf alle Fälle Energie sparen.“