Hilfsangebot gegen Vereinsamung: Einfach wieder einmal reden

In Bremen rufen Ehrenamtliche regelmäßig Senioren an, die einsam geworden sind. Für manche sind diese Telefonate der einzige soziale Kontakt.

Machen keine Seelsorge, eher telefonische Hausbesuche: (v.l.) Sieglinde Schmidt-Schäfer, Karin Fuhrmann, Elsbeth Rütten und Christel Lippmann Bild: Adrian Meyer

BREMEN taz | Aus der Küche röhrt der Kühlschrank, neben dem Esstisch im Wohnzimmer tickt eine Wanduhr. Sonst: Stille. Sie ist bereits nach wenigen Minuten schwer erträglich. Dieser Stille in ihrer Wohnung versucht Sabine Köhler*, 79, seit Jahren Geräusche, Gespräche, Besuche entgegenzusetzen. Doch Besuch kommt nur noch selten: Viele alte Freunde sind gestorben, die einzige Tochter wohnt 200 Kilometer entfernt. Und wenn das Telefon ab und an für einige Tage nicht klingelt, spricht sie halt kein Wort.

Ihr Mann hatte Alzheimer und seit er vor sieben Jahren gestorben ist, lebt Sabine Köhler allein in einem Reihenhaus im Osten Bremens. Eingezogen waren die Köhlers dort vor 33 Jahren. „49 Jahre lang waren wir verheiratet“, sagt sie. „Wenn man sich so lange so gut mit jemandem verstanden hat, dann kann man schlecht allein sein.“ Nach dem Tod ihres Mannes sei da nur noch Leere gewesen.

Voll mit Erinnerungen

Sabine Köhlers Gesicht mit den großen, blauen Augen lächelt stets und sendet dennoch eine gewisse Wehmut aus. Sie ist nicht mehr so gut zu Fuß, sie leidet an Polyneuropathie, einer Nervenkrankheit. Grad der Behinderung: 60 Prozent. Und weil sie jetzt auch noch ihre Augen operieren lassen musste, Grauer Star, kann sie für mehrere Wochen nicht mehr Auto fahren.

Aus dem Haus kommt sie jetzt kaum noch. „Dabei unternehme ich sonst viel und gehe raus“, sagt sie, „damit die Zeit vergeht.“ Ab und zu muss sie ihrem Haus entfliehen, zu sehr ist es vollgestopft mit Erinnerungen an ihren verstorbenen Mann. Und jetzt? Jetzt gehe die Zeit halt hin. Aber sie habe es sich gemütlich gemacht, bleibe lange auf, lese viel.

Umso mehr freut sich Sabine Köhler daher über einen ganz bestimmten Anruf einmal in der Woche. Dann, wenn die Damen aus dem Büro für Wohlfühlanrufe durchklingeln: um zu fragen wie es geht, um einfach mal zu schnacken. Darüber, was einem gerade auf der Seele liegt. Einfach mal abladen können, Sabine Köhler ist dankbar dafür.

In einer Bremer Wohnstraße voller Altbauhäuser liegt das Büro des Vereins Ambulante Versorgungsbrücken, der die Wohlfühlanrufe vor über einem Jahr ins Leben rief. Am Wochenende hat er dafür den 1. Preis im Wettbewerb „Zuhause hat Zukunft 2013“ des Vereins Wege aus der Einsamkeit bekommen.

Sieglinde Schmidt-Schäfer, 65, und Karin Fuhrmann, 70, klicken sich auf einem Laptop durch eine lange Adressliste des Büros für Wohlfühlanrufe. Mehr als hundert Namen stehen dort drauf, verteilt auf ganz Deutschland. Die beiden checken nach, worüber sie mit den Menschen, die sie gleich anrufen werden, beim letzten Telefonat gesprochen haben.

Einmal in der Woche rufen sie ältere Menschen an, die sie noch nie gesehen haben. Einfach, um zu reden. 15 Ehrenamtliche engagieren sich mittlerweile beim Telefondienst – ausschließlich Frauen, die meisten aus Berufen im Sozialbereich und bereits selber im Rentenalter.

Sie haben dafür eine dreimonatige Schulung absolviert: Sie wurden über ihre Schweigepflicht informiert und über ideale Gesprächsführung, über gewisse Tabuthemen oder darüber, wie sie mit Zeitzeugen des zweiten Weltkriegs umgehen sollen. Zuhören, nicht Ratschläge geben, das ist die Hauptsache. Denn die Wohlfühlanrufe sind keine Telefonseelsorge und auch kein Krisendienst, sondern eine Art Hausbesuch per Telefon.

Die Mehrzahl sind Witwen

Die Mehrheit der Menschen, die die Wohlfühlanrufe nutzen, sind alleinstehende, oft verwitwete Rentnerinnen. Für einige von ihnen ist der Anruf sogar der einzige regelmäßige soziale Kontakt. Laut des statistischen Bundesamtes leben 44 Prozent der über 65-jährigen Frauen in Deutschland allein, bei den über 80-jährigen sind es sogar 56 Prozent. Insgesamt sind in Deutschland 5,5 Millionen Menschen über 65 alleinstehend.

17 Stunden allein

Viele von ihnen haben niemanden mehr, mit dem sie lange Gespräche führen können: Der Ehemann gestorben, ebenso alte Freunde, die Kinder in andere Städte weggezogen. Laut des Deutschen Zentrums für Altersfragen (DZA) hat jeder fünfte der über 70-Jährigen keine oder nur noch eine feste Bezugsperson, jeder vierte hat seltener als einmal im Monat Besuch von Freunden, fast jeder zehnte trifft niemanden mehr. Und: Rund 17 Stunden am Tag sind diese Senioren im Schnitt allein.

„Wenn du nur allein zu Hause sitzt, wirst du doch matschig im Kopf“, sagt Karin Fuhrmann. Sie trägt hochtoupierte, schlohweiße Haare, eine schwarze Hose und ein schwarzes T-Shirt und raucht erst ein Zigarettchen, bevor sie heute wieder einmal bei Frau Hartmann* anruft. „Schönen guten Tag Frau Hartmann, wie geht es Ihnen? Sie haben an mich gedacht? Das ist ja schön!“

Für die nächste halbe Stunde verschwindet Karin Fuhrmann mit dem Telefon in einem Nebenzimmer des Vereinsbüros. Die Frau Hartmann, die habe immer viel zu erzählen. Sie fühle sich sehr einsam, obwohl sie so viele Kontakte habe. Und jetzt habe sie sich auch noch mit ihrem Bridge-Partner zerstritten.

Sieglinde Schmidt-Schäfer ist seit einem Jahr Telefondame im Verein. Die ehemalige Krankenschwester mit den kurzen, braun-grauen Haaren, der Hornbrille und der weichen Stimme sagt, ihr sei „Helfersyndrom“ auf die Stirn geschrieben. „Man kriegt durch die Telefonate so viel mit, auch sehr viel Leid“, sagt sie, „das erdet einen immer wieder“. Sie wählt die Nummer von Frau Schulze*. Frau Schulze sei mit ihren 94 Jahren die älteste Nutzerin der Wohlfühlanrufe und „unglaublich fit im Kopf.“

„Wir haben lange nichts mehr voneinander gehört, Frau Schulze, wie geht es ihnen?“ – „Ich freue mich sehr über ihren Anruf, sie gehören zu den guten Seelen.“ Frau Schulze erzählt, sie sei kürzlich leicht gestürzt, aber es sei nichts Schlimmes passiert. Und sehen könne sie ja auch praktisch nichts mehr, darum gehe sie kaum noch aus dem Haus. Ihr Wohnort habe sich ja so stark verändert in den letzten Jahren, nichts sei mehr wie früher. Sehr schade sei das.

Sie spricht von Problemen mit dem Finanzamt, seit Jahren habe sie die Steuererklärung nicht mehr ausgefüllt. Jetzt müsse sie nachzahlen. „Aber ich lass mich von sowas nicht mehr kaputt machen.“ Und dann lachen sie am Telefon plötzlich beide, Sieglinde Schmidt-Schäfer und die 94-jährige Frau Schulze. „Jetzt müssen sie schon wieder meine Sorgen anhören“, sagt Frau Schulze, „da müssen sie mich doch bremsen“. „Dann machen wir das jetzt.“ „Schön, dass wir schnacken konnten.“

Am Telefon würden nicht nur Sorgen abgeladen, sondern auch über Alltägliches gesprochen, oft gelacht, gewitzelt und manchmal sogar gesungen, erzählt Elsbeth Rütten. Die 65-jährige ehemalige Krankenschwester und Gründerin des Vereins arbeitet hinter einer Glaswand in einem Nebenzimmer des Vereinsbüros. Seit 2008 berät sie mit ihrer Initiative hilflose Patienten nach einem Krankenhausaufenthalt und vermittelt ihnen Hilfe.

„Wir haben während unserer Arbeit gemerkt, dass viele Menschen einfach nur mal wieder reden möchten am Telefon“, sagt sie. „Daraus sind unsere Wohlfühlanrufe entstanden.“ 35 Euro im Quartal kostet der Dienst, für Vereinsmitglieder ist er gratis. Sogar auf Platt kann man mit einer der Telefonistinnen sprechen. Mittlerweile werden auch Senioren aus Bayern oder Thüringen angerufen, mehr als 100 Personen sind es insgesamt. Mittlerweile interessieren sich auch Kommunen für Rüttens Wohlfühlanrufe. Sie wollen sich von ihr beraten lassen.

Als Hobby die Wikinger

Auch Sabine Köhler hat erst gestern wieder mit einer der Damen vom Verein telefoniert. Man merkt schnell, dass sie sich über jeden Besuch freut: Sie erzählt dann gerne von ihrer glücklichen Ehe und vor allem von ihrem leidenschaftlichen Hobby: Sie und ihr Mann haben sich für die Kultur der Wikinger interessiert, waren im Wikingerverein und gingen regelmäßig auf Wikingermärkte in Norddeutschland. Dort haben sie selbst gemachte Werkzeuge, Ketten aus Bernstein oder sogenannte Fibeln verkauft: metallene Gewandnadeln. „Mein Mann war darin sehr begabt. Ein toller Handwerker.“

Wenn Sabine Köhler von dieser Zeit erzählt, lacht sie über das ganze Gesicht: „Ich denke sehr oft an früher, dafür war die Zeit einfach zu gut.“ Bald, wenn es ihren Augen wieder besser geht, will auch sie als Telefondame bei Elsbeth Rüttens Verein mitmachen. Um dann selber fremde Menschen anzurufen. „Weil ich weiß, was es bedeutet, so allein zu sein.“

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