Die allergrößten deutschen Brüder

Der Verein „FoeBuD“ in Bielefeld hat die ersten „Big Brother Awards“ Deutschlands verliehen. Auf der Anklagebank für Verletzungen des Datenschutzes und andere Einbrüche in die Privatsphäre sitzen neben dem Berliner Innensenator auch die Entwickler des Open-Source-Webservers „Apache“

von NIKLAUS HABLÜTZEL

Es gehört sich nicht, die Pseudonyme von padeluun und Rena Tangens aufdecken zu wollen. Es wäre eine Schnüffelei in persönlichen Daten, und nötig ist es ohnehin nicht. Die beiden gehören zum Urgestein der deutschen Netzgesellschaft, ihr Mailboxensystem „Bionic“ schrieb Geschichte, als es ein entscheidender Kontenpunkt des Netzwerks „ZaMir“, das heißt „für den Frieden“, im ehemaligen Jugoslawien war. Noch immer absolut gegenwärtig ist der Verein „FoeBuD“, den die beiden, die eigentlich Künstler sind, schon 1987 im sonst so provinziellen Bielefeld gegründet hatten.

Regelmäßige Diskussions- und Informationsveranstaltungen über beinahe alle Bereiche der Netzkultur gehören inzwischen zur Routine in der niedersächsischen Mittelstadt. Letzten Donnerstag jedoch stand ein Ausnahmeereignis auf dem Programm. FoeBuD verlieh den ersten „Big Brother Award“ für Deutschland, einen Preis also, den die Gewinner nicht schätzen sollen, denn er wird verliehen für die in diesem Jahr jeweils schlimmste Art des Einbruchs in die Privatsphäre.

Die Idee eines solchen Preises stammt aus Großbritannien (www. privacyinternational.org/bigbrother/), sie ist schon in Österreich und in der Schweiz aufgegriffen worden, padeluun und Rena Tangens haben sie nun nach Deutschland importiert. Ein bisschen eigenwillig freilich, denn anders als in Großbritannien, der Schweiz und Österreich, wo die Öffentlichkeit ihre eigenen Kandidaten nominieren kann, hat die deutsche Jury alleine entschieden, wen sie in die engere Wahl nehmen will. Immerhin aber war sie so hochkarätig besetzt, unter anderem mit Datenschutzbeamten einerseits und Mitgliedern des Chaos Computer Clubs andererseits, dass eine reine Satireveranstaltung von vornherein ausgeschlossen war – dazu nämlich, zur Satire, neigen das britische Vorbild und seine anderen deutschsprachigen Nachahmer. Mit viel Musik und einer ordentlichen Party sind in Wien und Zürich ebenfalls in der vergangenen Donnerstagnacht die österreichischen und schweizerischen Big-Brother-Preise verliehen worden. Unangefochtener Spitzenreiter in Österreich ist der von der Öffentlichkeit nominierte Jörg Haider, in der Schweiz gewann in der Kategorie „Staat“ das Berner Militärdepartement (Verteidigungsministerium), in der Kategorie Privatwirtschaft der Konzern Hoffmann-La Roche. Parodisten von Marilyn Monroe oder Tina Turner trugen in der „Roten Fabrik“ in Zürich die Laudationes vor, die natürlich niemanden überraschten. Die Preisträger sind nun einmal nicht als Freunde der Freiheit und der Privatsphäre bekannt geworden.

Ernste Sorgen

Weniger lustig, dafür anstößiger feierten die Deutschen ihre größten Brüder. Rena Tangens, padeluun und die Mitglieder der Jury selbst trugen Begründungen für die Preise vor, die vor allem Warnungen vor kommenden Gefahren formulierten (www.bigbrothers.de). Nicht überraschend freilich auch hier der Preis in der in Bielefeld neu definierten Kategorie „Politik“. Er ging an Berlins Innensenator für seine Ideen zur verschärften Telefonüberwachung.

Aber schon in der davon zu unterscheidenden Bielefelder Kategorie „Behörden und Verwaltung“ hat die Jury bewiesen, dass sie nicht den Konsens aller rechtschaffenen Datenschützer wiederholen will. Sie vergab den Preis an Hartmut Mehdorn, den als „Ökomanager“ bereits preisgekrönten Chef der Deutschen Bahn AG. Er setzt seinen noch immer guten Ruf nach Meinung der Jury aber mit seinen Plänen aufs Spiel, die Bahnhöfe mit Videokameras überwachen zu lassen. Ein „beklemmendes“ Gefühl in der Tat, wie padeluun in der ihm eigenen Eloquenz den Preis begründet: „Gehen Sie zum nächsten Bahnhof, und Sie haben alle Chancen, dauernd beobachtet zu werden.“

Gar keinen „spektakulären, konkreten Fall von Datenmissbrauch“ hingegen wollte die Jury anprangern, als sie ihren Preis in der Kategorie „Business und Finanzen“ an die Firma Payback vergab (www.payback.de). Payback ist ein auf den bargeldlosen Zahlungsverkehr übertragenes Rabattmarkensystem, an dem inzwischen, nach Angaben der Firma, 12 Millionen Kunden teilnehmen sollen. Sie sammeln Rabattpunkte auf ihr Konto, Payback sammelt ihre Daten auf seinen Rechnern. Eben dies sei der eigentliche, jedoch verschwiegene Geschäftszweck des Unternehmens, heißt es in der Preisbegründung. Nun kann kein Rabattmarkensystem ohne Kundendaten funktionieren, die Elektronik jedoch mache aus diesem Umstand eine „äußerst gefährliche Struktur“.

Mag sein. Aber niemand muss bei Payback Punkte sammeln. Weit schwerer wiegt der Vorwurf, den die Bielefelder Jury mit ihrem Preis für den Mailservice GMX erhebt. Ein Pionier auf dem deutschen Markt für ein Produkt, dessen Nutzen unbestritten groß ist. Mit GMX (und allen anderen ähnlichen Diensten) ist es möglich, die eigenen E-Mails von jedem beliebigen Web-Browser aus auf jedem Computer zu verwalten, der ans Internet angeschlossen ist. Hackern ist es in diesem Jahr gelungen, die Passwörter von Kunden auszuforschen, und GMX konnte bislang nicht recht davon überzeugen, dass die Sicherheitsmängel wirklich behoben sind. Von einer bloßen „Panne“ könne daher keine Rede sein, versicherte die Jury, zu offensichtlich nehme es GMX mit dem Datenschutz nicht so genau.

Nichts ist umsonst

„Unerfreulich“, wenn auch nicht illegal finden die Juroren außerdem das offen eingestandene Geschäftsprinzip von GMX. Der kostenlose Dienst finanziert sich dadurch, dass seine Kunden detaillierte Angaben über ihre Hobbys, Interessen und Lebensumstände machen müssen. Zwar versichert das Unternehmen, dass diese Kundenprofile nur anonymisiert an Marketingagenturen verkauft werden, aber selbst in diesem Fall handelt es sich um Einblicke in das Privatleben, die kommerziell ausgebeutet werden.

Schon dieser Preis ist damit weniger die Abmahnung eines Einzelunternehmens als vielmehr eine Warnung vor dem heute vorherrschenden Wirtschaftsprinzip des Internet. Seine Nutzer bezahlen für die physischen Leitungen, die Inhalte und Dienste wollen sie umsonst haben. Ein so anspruchsvolles Angebot wie GMX kann daher nur indirekt durch Werbung und Vermarktung von Nebenprodukten, etwa einer Kundendatenbank, finanziert werden.

Dieses Prinzip selbst scheint den Juroren nicht problematisch zu sein. Mit ihrem Preis in der neu erfundenen Kategorie „Szene“ haben sie sich vielmehr erst recht selbst auf den Prüfstand der eigenen Glaubwürdigkeit gesetzt. Sie vergaben den Preis an das Konsortium, das den Webserver „Apache“ verbreitet (www.apache.org/httpd.html). Apache ist ein Vorzeigeprodukt der Open-Source-Bewegung, sein Quellcode darf jederzeit verändert werden. Ein großer Bruder sei es dennoch, meint die Jury, weil es schon in der Standardkonfiguration Daten sammle, die über die technisch notwendigen Funktionen eines Webservers hinausgehen.

Der Vorwurf richtet sich im Wesentlichen an die so genannten „Referer“-Daten, das sind Angaben darüber, von welcher vorhergehenden Adresse aus jemand auf ein Dokument zugreift. Mit solchen Logbüchern lassen sich Surftouren rekonstruieren, die zwar keine Personendaten enthalten, wohl aber Rückschlüsse auf typische Verhaltensmuster von Personen erlauben, jedenfalls dann, wenn man sie mit hinreichend großen, anderen Datenbanken abgleicht und intelligenten statistischen Methoden unterwirft.

Technischer Idealismus

Niemand kann ausschließen, dass damit am Ende der Begriff der Privatsphäre seinen Sinn verliert. Jedes Verhalten, auch mein privates, lässt sich in dieser Weise typisieren und kommerziell ausbeuten. Es fragt sich indessen, warum gerade der Apache-Server für diese Gefahr verantwortlich sein soll. Er leistet nichts anderes als andere, weit kommerziellere Produkte auch. Mag sein, dass einige seiner Datenbanken für die technischen Grundfunktionen überflüssig sind, für den Betreiber einer Website können sie aus wirtschaftlichen Gründen überlebenswichtig sein. Möglichst genaue Zugriffsdaten sind der Preis für die nur scheinbar kostenlosen Angebote im Internet. Sie allein lassen sich vermarkten, solange niemand für die Inhalte bezahlen will.

Aber offenbar fand die Jury keinen besseren Kandidaten für den Protest, den sie mit ihrem Preis formulieren wollte. Nimmt man sein Anliegen ernst, trifft er eher ein wirtschaftlichen System als ein technisches Produkt. Da der erste Rausch des E-Commerce gerade vorbei ist, besteht eine gewisse Chance, dass der Bielefelder Preis das überfällige Nachdenken anstößt. Der bloß technisch inspirierte Idealismus der Open-Source-Bewegung alleine schützt uns noch lange nicht vor massiven, kommerziellen Überwältigungsstrategien.

niklaus@taz.de