Strafrechtler über Transplantationsskandal: „Kein normaler Fall von Tötung“

Der in Göttingen wegen versuchten Totschlags angeklagte Transplantationschirurg dürfte rechtlich schwer zu belangen sein, meint Strafrechtler Bijan Fateh-Moghadam.

„Die Politik verkauft der Öffentlichkeit das Märchen, die Organverteilung erfolge in Deutschland nach medizinischen Kriterien.“ Bild: dpa

Am Montag beginnt vor dem Landgericht Göttingen die strafrechtliche Aufarbeitung eines der größten deutschen Medizinskandale: An vier Transplantations-Kliniken sollen Ärzte zwischen 2007 und 2012 teilweise systematisch Patientendaten verfälscht haben, um die Vergabe lebensrettender, aber sehr knapper Spenderlebern zu beeinflussen.

Die Muster der Manipulationen ähneln sich, egal, ob sie an den Universitätskliniken Göttingen, Regensburg, München oder Leipzig stattfanden: Mal wurden Laborwerte vertauscht, verändert oder falsch an die zentrale Organvergabestelle Eurotransplant übermittelt, mal Dialysen angegeben, die tatsächlich gar nicht stattgefunden hatten. Immer ging es darum, die eigenen Patienten kränker erscheinen zu lassen, als sie in Wirklichkeit waren, und somit ihre Chancen auf eine Spenderleber zu erhöhen - zu Lasten anderer, bedürftigerer Patienten, die deswegen möglicherweise starben.

Vor dem Gericht muss sich nun als erster Mediziner ein 46-jähriger Transplantationschirurg aus Göttingen verantworten. Die Anklage wirft ihm versuchten Totschlag in elf Fällen sowie Körperverletzung mit Todesfolge in drei Fällen vor (Az 6 Ks 4/13). Er soll bei der Meldung seiner Patienten an Eurotransplant bewusst falsche Angaben gemacht haben. Weil er um den Organmangel gewusst habe, habe er zumindest billigend in Kauf genommen, dass deswegen andere Patienten möglicherweise starben. Vorwürfe der Bestechlichkeit und des Organhandels sieht die Staatsanwaltschaft dagegen nicht bestätigt. Der Mann sitzt seit Januar 2013 in Untersuchungshaft.

Das Gericht unter Vorsitz des Richters Ralf Günther hat für den Prozess zunächst 42 Verhandlungstage angesetzt; im Falle einer Verurteilung drohen dem Mediziner eine Freiheitsstrafe nicht unter drei Jahren sowie ein Berufsverbot. Der Chirurg war schon früher aufgefallen: In Regensburg soll er bereits 2005 jordanische Patienten verbotenerweise auf die europäische Warteliste für Transplantationen gesetzt haben; eine im Eurotransplant-Raum gespendete Leber verpflanzte er in Jordanien; staatsanwaltschaftliche Ermittlungen wurden damals eingestellt.

Aktuell laufen strafrechtliche Ermittlungen gegen mehrere Ärzte in Regensburg, München und Leipzig - bislang gibt es aber keine Hinweise darauf, dass auch hier in Bälde mit Anklagen zu rechnen ist.

taz: Herr Fateh-Moghadam, klar ist: Kein Arzt konnte solche Mauscheleien bei der Organvergabe ganz allein, also ohne Helfer und Mitwisser, bewerkstelligen. Angeklagt vor dem Landgericht Göttingen ist jedoch nur ein einzelner Arzt, der ehemalige Leiter der Transplantationschirurgie aus Göttingen - wegen versuchten Totschlags in elf Fällen. Müssen die anderen Staatsanwälte zum Jagen getragen werden?

43, ist Strafrechtswissenschaftler am Exzellenzcluster Religion und Politik der Universität Münster. Er hat einen Lehrauftrag für Medizinstrafrecht und Rechtssoziologie.

Bijan Fateh-Moghadam: Wir stehen am Anfang eines umfangreichen Prozesses, in dessen Mittelpunkt der Vorwurf der Manipulation der Leberverteilung steht. Dass an einem Universitätsklinikum strafrechtliche Ermittlungen zu einer Anklage führen und an einem anderen nicht, kann sowohl mit Tatfragen als auch mit Rechtsfragen zusammen hängen. Für die Rechtswissenschaft interessant wird das Verfahren dadurch, dass die Staatsanwaltschaften sich offenbar nicht einig sind, ob die Manipulationshandlungen überhaupt strafbar sind.

Wie das? Das Strafgesetzbuch ist doch bundesweit gültig?

Selbstverständlich. Die Strafbarkeit von Verstößen gegen die Regeln der Organverteilung gilt jedoch in der Strafrechtswissenschaft als weitgehend ungeklärt. Es geht hier nicht um einen ganz normalen Fall der Tötung eines Menschen, sondern um die eigenmächtige Umverteilung von Lebenschancen in einem äußerst komplexen Verteilungssystem.

Das Tötungsunrecht, das hier im Raum steht, hat eine besondere Struktur: Aus Sicht der Patienten auf der Warteliste stellt sich die Manipulation nämlich allenfalls als eine Erhöhung des ohnehin bestehenden Risikos dar, nicht mehr rechtzeitig ein Organ zu erhalten. Die Patienten auf der Warteliste haben ja kein Recht auf ein bestimmtes Organ, sondern nur eine rechtlich garantierte Chance, ein Organ zu erhalten. In diese Chance greift die Manipulationshandlung ein, ohne dass klar wäre, welche konkreten Auswirkungen auf das Leben einzelner Patienten damit verbunden sind.

Was bedeutet das strafrechtlich?

Das Strafrecht tut sich schwer mit dieser Konstellation, weil das Transplantationsgesetz zum Tatzeitpunkt keinen Straftatbestand enthielt, der die Vermittlung von unrichtigen Patientendaten an die Organ-Vermittlungsstelle Eurotransplant erfasst. Dies ist der Grund, weshalb die Staatsanwaltschaft schwere Geschütze aufgefahren hat und den Tatbestand des Totschlags in den Mittelpunkt der Anklage gestellt hat.

Eine bloße Erhöhung des Risikos für die übrigen Wartelistenpatienten, nicht mehr rechtzeitig ein Organ zu erhalten, reicht aber für die Zurechnung eines Tötungserfolgs bei einem Totschlag nicht aus. Aufgrund der Komplexität des Organvergabeverfahrens durch Eurotransplant ist es offenbar in keinem einzigen Fall in Göttingen gelungen, nachzuweisen, dass ein auf der Warteliste verstorbener Patient ohne die Manipulation länger gelebt hätte.

Die Anklage spricht bewusst nicht von vollendetem, sondern von versuchtem Totschlag.

Die Staatsanwaltschaft macht es sich mit der Konstruktion des versuchten Totschlags möglicherweise zu leicht. Denn auch beim versuchten Totschlag muss dem Täter nachgewiesen werden, dass sich sein Entschluss auf die Herbeiführung eines Tötungserfolgs richtet und ihm objektiv zuzurechnen ist. Es reicht nicht, wenn der Täter lediglich eine diffuse Risikoerhöhung in Kauf genommen hat. Es sind aber durchaus Kausalverläufe denkbar, bei denen die Manipulationshandlungen überlebensneutral geblieben sind. Dies bietet der Verteidigung auch einen Ansatzpunkt dafür, den Tötungsvorsatz des Arztes in Frage zu stellen.

Sie gehen davon aus, dass der Göttinger Transplantationschirurg - ungeachtet des sonstigen Wahrheitsgehalts der Tatvorwürfe gegen ihn - jedenfalls wegen der Manipulation der Warteliste gar nicht verurteilt werden kann?

Ich möchte einem möglichen Prozessausgang nicht vorgreifen. Es handelt sich um eine ungeklärte Rechtsfrage, die voraussichtlich noch den Bundesgerichtshof beschäftigen wird. Zutreffend ist aber, dass in der Strafrechtswissenschaft - nicht nur von mir - erhebliche Zweifel an der Strafbarkeit der Manipulationen bei der Vergabe von Spenderlebern geäußert werden. Und das liegt nicht nur am Fehlen eines speziellen Straftatbestandes.

Sondern?

Der zentrale Konstruktionsfehler unseres Systems der Organverteilung liegt im Transplantationsgesetz: Nach der Rechtsprechung des Bundesverfassungsgerichts muss der Gesetzgeber bei Verteilungsordnungen in grundrechtrelevanten Bereichen - und hier geht es immerhin um Fragen von Leben und Tod - die Verantwortung für die unvermeidbaren normativen Weichenstellungen selbst übernehmen.

Das bedeutet, das Parlament muss mindestens die maßgeblichen normativen Verteilungskriterien und ihr Rangverhältnis untereinander festlegen. Nur eine solche hinreichend bestimmte, demokratisch legitimierte gesetzliche Regelung der Organverteilung ließe sich unmittelbar strafrechtlich absichern. Doch der Gesetzgeber weigert sich beharrlich, diese Verantwortung zu übernehmen.

Der Gesetzgeber hat sich dafür entschieden, die Formulierung der Richtlinien für die Organvergabe an die Bundesärztekammer zu delegieren. Diese Richtlinien sind sehr klar. Wenn nun dagegen verstoßen wird, muss Fehlverhalten doch sanktioniert werden können?

Nein. Richtlinien der Bundesärztekammer können schon deshalb nicht unmittelbar strafrechtlich abgesichert werden, weil die Bundesärztekammer keine strafrechtliche Normsetzungskompetenz besitzt. Soweit die Bundesärztekammer in ihren Richtlinien zur Organverteilung nicht nur den Stand der medizinischen Wissenschaft festlegt, sondern normative Verteilungsregeln setzt, ist das zudem durch das Transplantationsgesetz nicht gedeckt. Gerade das Beispiel der Lebertransplantation zeigt doch, dass die Entscheidung darüber, ob Lebern primär dringlichkeitsorientiert - wie gegenwärtig - oder primär erfolgsorientiert - wie bis 2007 - verteilt werden, nicht medizinischer, sondern normativer Natur ist und ethisch und rechtlich zu beantworten ist.

Warum geschieht das nicht?

Gegenwärtig entscheidet hierüber eine gesetzlich nicht vorgesehene Ständige Kommission Organtransplantation bei der Bundesärztekammer, die dazu weder legitimiert noch qualifiziert ist. Die Politik ignoriert diese seit nunmehr 15 Jahren immer wieder formulierte Kritik leider beharrlich und verkauft der Öffentlichkeit stattdessen das Märchen, die Organverteilung erfolge in Deutschland nach medizinischen Kriterien.

Dem Transplantationschirurgen wird auch vorgeworfen, er habe Alkoholiker auf die Warteliste gesetzt, obwohl diese noch gar nicht die vorgeschriebenen sechs Monate trocken waren. Ist das etwa kein medizinischer Regelverstoß?

Bei dieser Frist handelt es sich um eine als medizinische Kontraindikation getarnte Diskriminierung von alkoholkranken Patienten. Ja, mehr noch, wenn es sich um lebensbedrohlich erkrankte Patienten handelt, dann ist das ein rechtswidriger Angriff auf das Leben und die Gesundheit dieser Patienten. Die Bundesärztekammer hat allein den Auftrag, den Stand der medizinischen Wissenschaft für die Frage festzulegen, ob die Transplantation für den individuellen Patienten medizinisch indiziert ist.

Gemäß dem internationalen Stand der medizinischen Wissenschaft steht es aber außer Zweifel, dass Patienten mit alkoholinduzierter Leberzirrhose unabhängig von der Einhaltung solcher fixen Abstinenzfristen erfolgreich transplantiert werden können. Diese Patienten haben einen Rechtsanspruch auf Zugang zur Warteliste, und wenn dieser nur mittels Falschangaben durchgesetzt werden kann, so können sie sich auf ein Recht zur Lüge berufen.

Der Angeklagte ist kein Schurke, sondern ein verkannter Held?

Mit solchen moralisierenden Bewertungen kann ich als Rechtswissenschaftler nichts anfangen. Der Göttinger Transplantationschirurg mag viele Dinge falsch gemacht haben, aber der Umstand, dass er sich über die rechtswidrige Richtlinie der Bundesärztekammer zur Alkoholabstinenz hinweggesetzt hat, gehört nicht dazu.

Die Empörung über den Organ-Skandal war riesig. Wenn jetzt nicht bestraft werden kann, dann ist das - Stichwort Vertrauen in das Transplantationssystem - ein fatales Signal.

Ich denke, dass es falsch ist, die Lösung für das Problem einer gerechten Organverteilung primär im Strafrecht zu suchen. Ich fände es bedenklich, wenn durch die Konzentration auf die Verfolgung angeblicher oder tatsächlicher schwarzer Schafe in der Transplantationsmedizin von der grundsätzlichen Fehlannahme abgelenkt wird, die Organverteilung sei eine Selbstverwaltungsaufgabe der Medizin.

Sie klingen pessimistisch, was eine potentielle strafrechtliche Ahndung der Verstöße angeht. Kann der Prozess sich dennoch zu einem positiven Lehrstück entwickeln?

Es ist sicher nicht die Aufgabe eines Strafprozesses, das Vertrauen in die Transplantationsmedizin wieder herzustellen. Ein positiver Nebeneffekt der öffentlichen Diskussion über die Manipulationen bei der Leberverteilung könnte jedoch darin bestehen, dass deutlich wird, dass es sich bei der Organverteilung um ein genuines Gerechtigkeitsproblem handelt, und nicht um ein medizinisches Problem. Ich möchte die Hoffnung nicht ganz aufgeben, dass dies dazu beiträgt, dass das Grundproblem der fehlenden Legitimation unseres Systems der Organverteilung eines Tages doch noch auf die politische Agenda gesetzt wird.

Einmal zahlen
.

Fehler auf taz.de entdeckt?

Wir freuen uns über eine Mail an fehlerhinweis@taz.de!

Inhaltliches Feedback?

Gerne als Leser*innenkommentar unter dem Text auf taz.de oder über das Kontaktformular.

Das finden Sie gut? Bereits 5 Euro monatlich helfen, taz.de auch weiterhin frei zugänglich zu halten. Für alle.

Bitte registrieren Sie sich und halten Sie sich an unsere Netiquette.

Haben Sie Probleme beim Kommentieren oder Registrieren?

Dann mailen Sie uns bitte an kommune@taz.de.