Wunsch nach Beherrschung der Bauten

Klassik in Industrieruinen: Für zwei Abende wurde das Kraftwerk Vockerode bei Dessau zur Konzertstätte erklärt

Der Konzertsaal erlaubt Intensität, aber dafür wird das Konzerterlebnis selbst steril. Das musikalisch progressive Bewusstsein rebelliert deshalb seit einigen Jahren gegen die überkommenen Aufführungsriten klassischer Musik. Bei der Erschließung alternativer Konzertstätten und -formen hat man sich aber – vielleicht etwas tumb – auf die Besetzung leer stehender Industriehallen versteift.

In Sachsen-Anhalt wurde dieser Trend vergangenes Wochenende einmal mehr bestätigt; das stillgelegte Kraftwerk Vockerode bei Dessau wurde dort durch das Konzertprojekt „In den Stunden des Neumondes“, geleitet von Eberhard Kloke, für zwei Abende zur Musikstätte erklärt.

Vockerode ist ein Koloss; die brach liegende Halle fasst mühelos drei Fußballfelder. Sänger, Ensemble und Orchester agieren dabei auf verschiedenen Ebenen der Halle – von oben, von unten, manchmal auch einfach von vorn. Beim Eintritt stockt der Atem. Erst im Verlauf der Veranstaltung, wenn sich das Publikum das Werksschiff erwandert, mildert sich der Eindruck.

Zwei Themen ziehen sich durch das Programm: Der erste Abend thematisiert Fremde, Distanz und das Wandern. Lieder aus Schuberts „Winterreise“, ein nostalgisches Melodram auf H. P. Lovecrafts „The Outsider“ von Moritz Eggert und das räumlich ausgedehnte „spatial ayres“ von Gerhard Stäbler auf Heiner Müllers Gedicht „Ulyss“ stecken das Terrain ab. Der zweite Abend kreist um die Motive Bild, Farbe und Licht. Hier sorgen John Taverners „Ikon of Light“, Alfred Schnittkes „Der gelbe Klang“ und Mussorgskis „Bilder einer Ausstellung“ für die sinnfällige musikalische Verankerung.

Die Inszenierung bleibt allerdings dürftig. Die Bewegungen der Sänger sind stockend, die Lichteffekte fahl bis kitschig, die Kostümierung ist mager. Es fehlt der Regisseur, der das musikalisch klare Konzept ins Räumliche und Bildliche überführt.

Überzeugende Momente treten nur vereinzelt auf, etwa als das Streichquintett die grundierende Begleitung zu Charles Ives' „The Unanswered Question“ abgibt und die hundert Meter entfernten, sinfonischen Streicher die trübe Akkordfolge nahtlos im Pianissimo aufgreifen. Oder als Kai Stiefermanns heller und klarer Bariton zum Ende von Mahlers „Der Tambourg’sell“ in einer hohen Ecke und in dunkler Melancholie verklingt.

Der entscheidende Makel haftet am Ende aber an der Aufführungsstätte selbst. Industrieruinen beschwören den Mythos vom Fortschritt, vom vermeintlichen Sieg über die inhumane Epoche der Industrialität. Sie wecken den unbändigen Wunsch nach vollkommener Beherrschung der monströsen Bauten.

Es scheint aber weder wünschenswert, diesen Mythos fortzuspinnen, noch kann die technische Ausstattung, die vor der opulenten Architektur kapituliert, die Hallen wirklich bewältigen. Die Unterhaltungsindustrie bemächtigt sich bautechnischer Kolosse heute mit einer gewissen Routine. Die klassische Musik aber muss auf eine überzeugende und dann hoffentlich ideologiekritische Umsetzung postindustrieller Kunstkonzepte weiter warten. BJÖRN GOTTSTEIN