500 Meter weiter Richtung Westen

Nach mehr als 10 Jahren Planung fährt die Straßenbahn jetzt über die Warschauer Brücke in Friedrichshain. S-Bahn-Fahrgäste müssen trotzdem 160 Meter beim Umsteigen laufen. Nächstes Jahr soll die Tram bis Kreuzberg fahren

Die Türen schließen leise, fast rucklos setzt sich die Straßenbahn in Bewegung, gleitet sanft über die Warschauer Brücke in Friedrichshain. Nach einer Minute bremst Peter Strieder (SPD), Straßenbahnfahrer und Verkehrssenator, öffnet die Türen und lässt die Fahrgäste aussteigen. „Wie war ich?“, fragt der Schaffner ohne Hut über die Schulter. „Sehr gut“, antwortet BVG-Chef Rüdiger vorm Walde grinsend.

Kunststück! Schließlich hat Fahrschüler Strieder jahrelang Zeit zum Üben gehabt, bevor er die erste Zweirichtungs-Tram über die Warschauer Brücke lenken konnte. Zehn Jahre nach der Wende schafft es die Straßenbahn zwar immer noch nicht nach Kreuzberg über die Oberbaumbrücke. Seit gestern kommt die Linie 20 aber immerhin rund 500 Meter weiter Richtung Westen. Geht’s in diesem Tempo weiter, können die fusionierten Kreuzberger und Friedrichshainer im Jahr 2045 mit einer Tram-Verbindung zum Hermannplatz rechnen.

Da ist es tröstend, dass dank Strieders Fahr- und Planungskünsten wenigstens das Umsteigen zur U-Bahn schneller geht. Statt 450 nur noch 40 Meter Fußweg entlang der viel befahrenen Warschauer Straße. Von so viel Glück können die S-Bahn-Nutzer nur träumen. Einmal Umsteigen macht schlappe 160 Meter Fußmarsch auf einem schmalen Bürgersteig. Und mindestens 6 Minuten warten. Denn auf die Warschauer Brücke darf nur die nach Prenzlauer Berg führende Tramlinie 20 - die aus Lichtenberg kommende Linie 23 muss nach wie vor in die Wendeschleife an der Revaler Straße. Der Grund: Auf der Brücke ist zu wenig Platz für Straßenbahnen mehrerer Linien. Das ändert sich erst, wenn die Gleise wenigstens bis zu einer neuen Wendeschleife am Schlesischen Tor verlängert werden. Strieder auf die Frage, wann es denn bis Kreuzberg gehe: „Im nächsten Jahr.“

Die Straßenbahnfreunde ließen sich gestern dennoch nicht die Laune vermiesen. Mehr als hundert überwiegend ältere Berliner waren mittags zur Warschauer Brücke gepilgert, um der Eröffnung der 13,1 Millionen Mark teuren Tramverlängerung beizuwohnen. Das langsame, aber stetige Vorwärtskommen der Straßenbahn – die Fans feiern es bei Bier und Bratwurst, Live-Musik und Fachsimpelei.

„Das haben sie schön hingekriegt“, gratuliert ein Mann im Rentenalter. „Die Bahn hätten sie gleich weiterbauen sollen“, schimpft ein anderer. „Ist eine Kostenfrage“, meint ein dritter, der an der Backsteinwand der Hochbahnhalle lehnt. Aus den Kellerluken dröhnen die Bässe eines Technoclubs. Den übernächtigten Teenies, die mittags vor dem „Matrix“ abhängen, ist die neue Straßenbahn egal. „Ich komm immer mit dem Auto her“, meint einer, mit kleinen Augen ins Tageslicht blinzelnd.RICHARD ROTHER