Spaziergang in die Hölle

Nichts sehen heißt nicht sündigen: In seinem neuen Film „Die Stille“ beschäftigt sich der iranische Regisseur Mohsen Makhmalbaf mit dem fundamentalistischen Kunstverbot – im Stile eines orientalischen Märchens

„Wer Musik hört, kommt in die Hölle“, habe ihn seine religiöse Großmutter immer gewarnt. Auf Spaziergängen mit ihr musste er sich deshalb die Ohren zuhalten. In „Die Stille“ verarbeitet der iranische Regisseur Mohsen Makhmalbaf dieses Kindheitstrauma des Kunstentzugs, allerdings völlig unpsychologisch und jedem sozialen Realismus entrückt, im Stile eines orientalischen Märchens.

Die Angst vor der sinnlichen Verführungskraft der schönen Künste zeichnet die meisten Religionen in ihrer fundamentalistischen Phase aus. Der Iran gilt bis heute sozusagen als Inbegriff dieser strengen Haltung, und so ist es kein Wunder, dass Makhmalbaf seinen Film dieses Mal in Tadschikistan gedreht hat. Denn „Die Stille“ ist zunächst ein Fest für das Auge; die bunte Vielfalt der Kleider gerade der Mädchen und Frauen im Film wäre im Iran undenkbar.

So stellen schon die Farben dieses Films eine Art Sinfonie dar. Und das, obwohl die Hauptperson blind ist. Der 10-jährige Khorshid lässt sich ganz durch sein Gehör leiten. Das Brot kauft er bei der Verkäuferin mit der schönsten Stimme, und wenn ihm im Bus eine solche zu Ohren kommt, dann kann es sein, dass er seine Haltestelle einfach verpasst. Zwar ist Khorshid noch ein Kind, doch schon lasten die Bürden eines Erwachsenenlebens auf seinen schmalen Schultern. Die Mutter klagt, dass der Vermieter sein Geld wolle, jeden Tag tritt Khorshid deshalb den Weg zur Arbeit in der Werkstatt eines Instrumentebauers an, wo er mit seinem feinen Gehör für das Stimmen zuständig ist. Doch nicht immer kommt er dort an, zu viele Geräusche auf dem Weg lenken ihn ab. Bald läuft er Gefahr, von seinem ungeliebten Patron entlassen zu werden. Die Suche nach den Veranlassern seines Zuspätkommens macht es noch schlimmer, und am Ende werden er und seine Mutter aus ihrer Wohnung vertrieben.

Was sich anhört wie ein tränenreiches Sozialdrama aus frühindustrieller Zeit, ist bei Makhmalbaf eine Parabel über das Verhältnis von Kunst und Alltag. Wobei der Zauber dieses Films gerade darin besteht, dass diese hier Gegensätze bleiben – in „Die Stille“ gibt es keine Aussöhnung der Sphären, die Kunst bleibt das Gegenteil des schnöden Alltags, der von Zwängen geprägt ist, seien sie familiärer, gesellschaftlicher oder finanzieller Art.

Kunst, die hier gleichgesetzt ist mit Sinnesfreude, muss der rauen Realität erst abgewonnen werden. „Nutze den Augenblick!“ – die Zeile eines persischen Gedichts ist Leitmotiv des Films, dem der kleine Khorshid, nachdem er es von zwei Mädchen im Bus auswendig lernt, nachzueifern beginnt. In einer Szene musikalischen Triumphs bringt er eine ganze Basarstraße dazu, auf allen möglichen Gegenständen Beethovens Fünfte zu schlagen. Die schönsten Momente dieses Films sind jedoch die, in denen sich seine Cousine Nadereh aus Blütenblättern lange farbige Fingernägel bastelt, Kirschen übers Ohr hängt und, während er die Instrumente stimmt, zu tanzen beginnt. Das macht die Angst vor den Verführungsmächten der Kunst schon wieder verständlich.

BARBARA SCHWEIZERHOF

„Die Stille“. Regie: Mohsen Makhmalbaf. Mit Tahmineh Normatova, Nadereh Abdelajeva, Golbibi Ziadolajeva, Iran 1996, 75 Min.