Starthilfe: „Wenn sie Mama sagen, sind sie angekommen“

Pflegefamilien geben Kindern ein Zuhause, die oft mit Hypotheken kommen. Was die Pflegeeltern vermissen: Wertschätzung für ihre Arbeit.

Sie werden händeringend gesucht, aber nicht so wertgeschätzt, wie es angemessen wäre: Pflegeeltern. Bild: dpa

HAMBURG taz | „Sie wollen Trubel?“, hat Lisa Martensen* am Telefon gefragt. „Dann kommen Sie am besten mittags.“ Der Weg zum Haus der Familie Martensen führt durch Felder und Wiesen, durch Dörfer, die am Ortseingang mit „Moin“ und am Ausgang mit „Tschüs“ grüßen, dazwischen stehen reetgedeckte Bauernhäuser. Dithmarschen sieht aus wie seine eigene Postkarte, idyllisch, ländlich, friedlich. Die Geschichten, die Frauen wie Lisa Martensen zu erzählen haben, klingen dagegen wie aus einer anderen Welt: Es geht um Gewalt, um Eltern, die ihre Kinder vernachlässigen, Kinder, die sich mit Wutanfällen oder eisiger Gefühlskälte wehren. Die Frauen sind Pflegemütter – sie kümmern sich um ein, zwei oder mehr fremde Kinder. Bei Lisa Martensen leben zurzeit vier.

In der gefliesten Wohnküche tickt eine Uhr, der Familienhund wedelt freudig zur Begrüßung. Lisa Martensen belegt Vollkorn-Pizzateig, während sie erzählt. Ihre leiblichen Kinder sind schuld daran, dass Familie Martensen zur Pflegefamilie wurde: Nach einem Fernsehbericht über ein vernachlässigtes Kind ging es am Abendbrottisch um die Frage, was in einem solchen Fall mit dem Opfer geschehe. Als Lisa Martensen Pflegeeltern erwähnte, war die Idee geboren. „Unser Haus ist groß genug“, sagt sie. „Warum also nicht?“

Ordentliche Manieren

Das Jugendamt kann - und muss - ein Kind "in seine Obhut nehmen", wenn es selbst darum bittet oder wenn "eine dringende Gefahr für das Wohl" besteht, heißt es in Paragraf 42 des Sozialgesetzbuches VIII. Die leiblichen Eltern haben ein Widerspruchsrecht gegen die Entziehung.

Die Vormundschaft bleibt in der Regel bei den leiblichen Eltern oder einem Amtsvormund. Diese, und nicht die Pflegeltern, dürfen über Fragen wie Aufenthalt oder Schule entscheiden.

Die Pflegeeltern arbeiten ehrenamtlich gegen eine geringe Entschädigung. Sie müssen ein Einkommen und ein Haus oder eine Wohnung mit genügend Platz für die Pflegekinder nachweisen.

Die Zahl der Inobhutnahmen steigt in Deutschland seit mehreren Jahren stetig. Im Jahr 2012 haben die Jugendämter in Deutschland 40.200 Kinder und Jugendliche in Obhut genommen, gut fünf Prozent mehr als im Vorjahr.

Der Uhrzeiger ist auf Mittag vorgerückt, und die Kinder trudeln ein. Justin und Arielle* besuchen Schulen im Ort, Suse* geht in die Kita, Nico* hat Förderunterricht. Sie platzten herein, legen ihre Ranzen ab, wollen eilig von den Erlebnissen des Vormittags berichten. Martensen dirigiert, schickt die Kleineren zum Händewaschen und bittet die Älteren, den Tisch zu decken. Dass gemeinsam gegessen wird, ist für die Mutter wichtig – ordentliche Manieren auch. Als Nico anfängt, mit seiner Pizza zu spielen, sagt Lisa Martensen: „Lass das, oder du gehst raus.“ Sie meint diese Dinge ernst, die Kinder wissen das. Nico setzt sich gerade hin und isst schweigend weiter.

„Bekannte finden es manchmal hart, wie ich mit den Kindern umgehe“, sagt sie später. Als sie anfing als Pflegemutter, hatte sie ein weiches, rosiges Kuschelbild: Die Kinder bräuchten vor allem Liebe und Verständnis. „Quatsch“, sagt sie. „Die Kinder brauchen vor allem Sicherheit, also klare Regeln.“ Hausaufgaben werden sofort erledigt, die ausgekippte Legokiste noch vor dem Essen wieder eingeräumt: „Es ist harte Arbeit und dauert“, sagt Martensen. Manchmal sei es „wie das Leben mit einem Alzheimer-Patienten, man fängt ständig wieder von vorne an“.

Last der Herkunftsfamilie

Kein Pflegekind sei einfach, sagt Claudia Nabert. Die Vorsitzende des „Landesverbandes für Kinder in Adoptiv- und Pflegefamilien in Schleswig-Holstein“, eine zierliche, energische Frau, hat neben ihren zwei leiblichen sieben Pflegekinder betreut, das Jüngste ist drei Jahre alt. Nabert kritisiert die Jugendämter, die Kinder oft zu spät von ihren leiblichen Eltern trennten: „Da herrscht die Meinung, dass die Eltern das Wichtigste sind.“ Familien müssten mehrfach Hilfsangebote ignorieren, bis das Amt reagiere, berichtet sie: „Man hat manchmal den Eindruck, die leiblichen Eltern dürften sich alles erlauben.“ Würden die Kinder endlich geholt, seien sie schwer vernachlässigt, traumatisiert oder litten unter unsichtbaren Behinderungen.

Tatsächlich ist die Gesetzeslage eindeutig: Eltern haben ein Recht auf „Hilfen zur Erziehung“, der Erhalt der biologischen Familie geht vor. Das Land Schleswig-Holstein startet gerade den Versucht, dieses Gesetz zu reformieren – aus dem Elternrecht soll ein Kinderrecht werden. Hinter dem Vorstoß steckt die ehemalige Sozialministerin Gitta Trauernicht (SPD), die selbst eine Pflegetochter aufgezogen hat.

Lisa Martensen hat einen Familienrat einberufen, bevor sie das erste Pflegekind aufgenommen hat. „Es ist wichtig, vorher herauszufinden, wo die eigenen Grenzen liegen“, sagt sie: Traut man sich das Leben mit einem behinderten Kind zu, wie alt soll es sein, welchen Kontakt pflegt man zu der Herkunftsfamilie. Dort lag ganz klar eine ihrer Grenzen. „Ein verurteilter Gewalttäter kommt mir nicht ins Haus“, sagt Lisa Martensen.

Pflegeeltern sind eine vergleichsweise preiswerte Lösung, Kinder unterzubringen – ein Heim ist weit teurer als das Geld für den Lebensunterhalt plus die rund 200 Euro, die die Pflegeeltern extra erhalten. Keine Riesensumme für einen Job, der rund um die Uhr dauert und keine Ferien kennt, trotzdem sorgt sie für Vorurteile, sogar Neid. Lisa Martensen schüttelt den Kopf: „Dabei würden wir ohne die Kinder finanziell besser dastehen. Ich könnte voll arbeiten statt nur stundenweise, und die Kosten wären deutlich geringer.“ Claudia Nabert bestätigt: „Niemand macht das wegen des Geldes.“

Tatsächlich müssen Pflegefamilien ein eigenständiges Einkommen nachweisen. Die Ehemänner von Nabert und Martensen verdienen gut, sie sind aber nur selten zu Hause – um die Kinder kümmern sich die Frauen weitgehend alleine. Sie finden, dass sie der Gesellschaft helfen, Geld zu sparen und dazu beitragen, Kindern aus schwierigen Verhältnissen einen guten Start zu geben. Darum sei es ärgerlich, „dass man nicht als Partner, sondern als Bittsteller behandelt wird“, sagt Martensen. Gerade im Kreis Dithmarschen ist das Verhältnis zwischen Pflegemüttern und Jugendamt angespannt – dabei klagte im Frühjahr der Kreis darüber, dass sich zu wenig Familien fänden.

Davon kein Wort mehr: „Wir gehen davon aus, dass in jedem Gemeinwesen eine bestimmte Anzahl von Familien leben, die sich für diese ehrenamtliche Arbeit interessieren und die geeignet dafür sind“, heißt es lapidar aus der Verwaltung in Heide – schriftlich, denn statt wie vorgeschlagen ein Gespräch zu führen, schickt das Amt lieber eine E-Mail. Der Kreis habe ein „ausgebautes Pflegekinderwesen“, heißt es darin, dessen „zufriedene Pflegeeltern die besten Werbeträger“ seien. Auch die von den Eltern geforderte „Augenhöhe“ wird erwähnt – allerdings nur im „Umgang der Pflegefamilie mit den leiblichen Eltern“. Denn „Pflegeeltern können die Überzeugung entwickeln, die ,besseren’ Eltern zu sein“, so der Kreis-Sprecher.

Willkür des Jugendamts

Claudia Nabert sieht sich in ihrer Kritik bestätigt: „Jugendämter agieren frei, Beschwerden gegen Verwaltungshandeln sind kaum möglich.“ So würden einige Kreise, darunter Dithmarschen, entgegen der Rechtslage keinen Förderzuschlag für Kinder mit sozialen Störungen oder Behinderungen zahlen. Stimmt, bestätigt der Kreis und argumentiert, dass besonders schwierige Kinder von „besonders befähigten, belastbaren und qualifizierten Pflegepersonen betreut“ würden. Martensen hält sich durchaus für belastbar und erfahren, dennoch: Es sei grenzwertig, wenn eine Familie mehrere Kinder mit Störungen, wie sie etwa durch Alkoholismus in der Schwangerschaft entstehen, betreuen soll. „Aber das Jugendamt steckt einfach weitere Kinder dazu, informiert die Eltern nicht richtig, was auf sie zukommt, und bei Beschwerden heißt es, die Pflegeeltern seien emotional.“

Die Rückkehr tut weh

Dass die Kinder in vielen Fällen wieder zu ihren leiblichen Eltern zurückgehen, wissen die Pflegemütter ebenso gut wie die Kinder. „Teils steht es von vornherein fest, teils ergibt es sich“, sagt Lisa Martensen. Aber so oder so: „Wenn eines geht, tut es immer weh.“ Auch, weil die Kinder untereinander ein inniges Verhältnis entwickeln. Gerade ist der leibliche Sohn im Auslandsjahr und die Pflegekinder vermissen ihn dringlich.

Alle ihre Pflegekinder nennen Lisa Martensen „Mama“ – das passiere irgendwann von allein, sagt sie: „Dann weiß ich, dass sie angekommen sind.“ Manchmal, sagt Martensen, frage sie sich, ob es richtig sei, den Kindern so viel Einblick in ein Leben zu geben, das ihnen ihre leiblichen Eltern nicht bieten könnten: „Ich zeige ihnen, was geht und was sie tun könnten – vielleicht fragen sie sich eines Tages, was es ihnen nützt.“ Aber unterm Strich findet sie es richtig: „Hätten meine Kinder in Pflege gemusst, hätte ich mir gewünscht, dass die Pflegefamilie sich bestmöglich um sie kümmert.“

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