Die Zeiten haben sich geändert

■ Eine gründliche Dokumentation über die Geschichte der bundesdeutschen Stadtguerilla und die vergessene Entführung des Peter Lorenz („Der Austausch“, 21.45 Uhr, ARD)

Das waren Zeiten: Ende Februar vor 25 Jahren kidnappte eine Hand voll junger Leute den Spitzenkandidaten der Westberliner CDU, Peter Lorenz, mitten im Wahlkampf. Die Behörden gingen auf die Forderungen ein und ließen fünf gefangene Genossen ausfliegen, Peter Lorenz kam unversehrt frei. So war das damals.

Eine unglaubliche Geschichte, von heute aus betrachtet. Schon deshalb lohnt es sich, den Dokumentarfilm anzuschauen. Dem Autor, Klaus Stern, ist es gelungen, mit allen erreichbaren Aktivisten zu sprechen. Das gibt seiner Arbeit Gewicht. Dass es ein riesiges Interesse, ganz besonders bei jungen Leuten gibt, mehr aus diesen unglaublichen Zeiten zu erfahren, weiß man spätestens, seit 1997 Heinrich Breloer mit seinem Dokudrama „Das Todesspiel“ über die Schleyer-Entführung Millionen Zuschauer vor den Bildschirm lockte. Oder die taz mit einem Sonderheft zum gleichen Thema im „Deutschen Herbst“ ungeahnte Auflagenzahlen erreichte.

Wo Breloer mit dokumentarischer Arbeit nicht weiter kam, griff er zum Drama, ließ Schauspieler agieren und Kulissen basteln. Darauf verzichtet Klaus Stern. „Wer soll freikommen?“ heißt seine Grundfrage und bedeutet nichts anderes, als dass Menschenleben gleich Menschenleben ist. „War die Entscheidung richtig?“, fragt er die damaligen Bonner und Berliner Entscheidungsträger und „Hat es sich gelohnt?“ die ehemaligen Stadtguerilleros.

Politiker wie Helmut Schmidt, 1975 Bundeskanzler, oder der damalige Justizminister Hans Jochen Vogel (SPD) wägen sorgfältig ab. Klaus Schütz, seinerzeit der direkte Wahlkampfkontrahent des entführten Peter Lorenz, hält den Austausch noch heute für richtig; Helmut Schmidt befürchtet, mit dem Einlenken folgende Freipressungsaktionen ermutigt zu haben. Schmidt gab nie wieder nach: weder im April des gleichen Jahres, als ein RAF-Kommando die deutsche Botschaft in Stockholm besetzte, noch 1977, als Arbeitgeberpräsident Hanns Martin Schleyer entführt wurde.

„Was heißt gelohnt?“, fragt heute Gabriele Rollnik den Interviewer zurück, „es war erfolgreich!“ Die Lorenz-Entführerin hat 15 Jahre ihres Lebens in Haft verbracht. Alle anderen Beteiligten übrigens auch. Die von Gesellschaft und Rechtsprechung vorgesehene Strafe hat die Entführer erreicht. Es blieb wohl mehr als genug Zeit, über die Gretchenfrage nachzudenken: „Würden Sie es noch einmal tun?“

„Hinterher weiß man es immer besser“, meint Ronald Fritzsch milde und sibyllinisch zugleich. – „Es war eine andere Zeit, ... aber auch mit allen Konsequenzen, ... jederzeit wieder“, sagt Ralf Reinders. Darüber mag man sich empören oder den mittlerweile ergrauten, aber konsequent langhaarigen Kreuzbärger belächeln. Das Gefühl, einmal gesiegt zu haben, scheint anhaltend zu erheben.

Das Schlüsselwort ist sein Hinweis auf die andere Zeit: Westdeutschland, Westberlin unter dem Regime des Kalten Krieges, der Blockkonfrontation. Heute fast unvorstellbare Obrigkeitsgläubigkeit der deutschen Nachkriegssaubermänner, die sich selten so eindringlich äußerte wie 1967 beim Besuch des Schahs von Persien in Berlin: Eine Möchtegerndemokratie verneigt sich vor dem Terrorkaiser. Pickelbehelmte Berliner Polizisten prügeln demonstrierende Studenten in den Staub, Benno Ohnesorg wird erschossen. An diese Ereignisse knüpft die „Bewegung 2. Juni“ in ihren aktiven Jahren an.

Die Zeiten haben sich geändert. Ganz andere politische Unvorstellbarkeiten erregen die Öffentlichkeit. Nicht nur das. Wer käme heute auf die Idee, eine politische Idee mit aller Konsequenz durchsetzen zu wollen? Ronald Fritzsch: „Wir waren überrascht. Wir hatten geglaubt, Lorenz sei ein Verbrecher wie viele, die nur in die eigene Tasche wirtschafteten. Aber er passte nicht in dieses Feindbild.“ Am Ende darf Lorenz das „Volksgefängnis“, in das er wenige Tage zuvor betäubt und in einer Holzkiste verrammelt transportiert worden war, aufrecht gehend verlassen. Petra Groll