Der Soldat als nationaler Klebstoff

Am Montag finden in Israel Parlamentswahlen statt. Daß in der neuen Knesset der Anteil der weiblichen Abgeordneten deutlich höher sein wird als bisher, ist sehr fraglich. Das traditionell männlich und militärisch geprägte Land verfügt bislang über die niedrigste Quote weiblicher Volksvertreter in der westlichen Welt  ■ Von
Alexandra Senfft

„Jungs, ohne Frauen geht es nicht!“ lautet der Slogan des Israeli Women's Network. Auf dem Flugblatt zeigt die Frauenorganisation Ministerpräsident Benjamin Netanjahu in Stöckelschuhen und Weibchenpose. Ehud Barak, Kandidat der Arbeitspartei (Labour), macht in Abendkleidrobe eine verzückte Miene. Daneben damenhaft positioniert und kostümiert: Vertreter der Zentrumspartei. „Diesen Appell unterstützen wir selbstverständlich“, sagt Anat Ma'or, Abgeordnete der linksliberalen Partei Meretz. Ihre Partei tritt diesmal mit einer eigenen Frauenliste zur Knesset-Wahl am 17. Mai an: „Nur bei Meretz sind die Frauen eine starke Kraft!“ Acht der zwanzig Meretz-KandidatInnen sind Frauen, darunter eine israelische Araberin, jedoch nur zwei von ihnen haben aussichtsreiche Plätze. Ma'or, die es auf Platz fünf sicher wieder in die Knesset schaffen wird, kann zuversichtlich sein: „Seit Anfang der neunziger Jahre haben wir durch Frauenausschüsse und Basisarbeit viel für Frauen erreicht. Wir haben in den meisten Parteien die Quote erstritten, und auch wenn die noch zu niedrig ist, könnten wir die Zahl weiblicher Abgeordneter in der nächsten Knesset vielleicht verdoppeln.“

Das allerdings wäre ein Novum: Seit Israels Bestehen waren im Parlament jeweils nur um die zehn Frauen vertreten, nur sechs waren jemals Kabinettsmitglieder. Unter den 120 Abgeordneten in der jetzigen Legislaturperiode sind gerade einmal neun Frauen. In der westlichen Welt gehört Israel zu den Ländern mit der geringsten Repräsentation von Frauen in den Parlamenten: 10,8 Prozent auf regionaler und nur 7,5 Prozent auf nationaler Ebene. Dieses Mißverhältnis rührt vor allem daher, daß sich das Land seit fünfzig Jahren im Kriegszustand befindet und die Politik eng mit dem Militär verwoben ist.

Alle drei Kandidaten von Likud, Labour und Zentrumspartei, die sich für das Amt des Premierministers bewerben, sind Männer mit beachtlichen Militärkarrieren. In der Vergangenheit war Schimon Peres als „Intellektueller“ deshalb auch weit unpopulärer als der „Kriegsheld“ Jitzhak Rabin, dem man eher zutraute, für Israels Sicherheit sorgen zu können.

Die israelische Gesellschaft ist geprägt durch den Holocaust, durch den weltweit andauernden Antisemitismus und fünf Nahostkriege: Die Armee und das Ideal vom Heldentum sind so zu gesellschaftlich herausragenden Werten geworden: „Der Soldat ist der nationale Klebstoff“, sagt die Feministin Yvonne Deutsch. Die Besetzung der palästinensischen Gebiete und die bürgerkriegsähnlichen Auseinandersetzungen während der Intifada haben in der Generation von Israelis, die schon 18jährig als Besatzer auftreten mußte, tiefe Spuren hinterlassen. Die aggressive Besiedlung des Westjordanlands und des Gazastreifens hat auch die Nationalreligiösen beängstigend gestärkt. Der Einfluß ihrer Bewegung reicht bis in die Knesset und den amerikanischen Kongreß.

Nur zwei Kandidatinnen haben aussichtsreiche Listenplätze

Ein weiterer Grund für die geringe Vertretung von Frauen in der parlamentarischen Politik ist demographischer Art: Mindestens ein Drittel der Bevölkerung ist patriarchalisch und konservativ geprägt – Juden mit afrikanisch-asiatischem Hintergrund, Religiöse und Araber. Frauen haben hier ihre traditionelle Rolle als Ehefrau und Mutter zu spielen, Gleichberechtigung ist ein Fremdwort aus dem Sprachschatz des Westens.

Auf allen Frauen, unabhängig von ihrer Herkunft, lastet der Druck, der gesellschaftlichen Norm zu entsprechen: zu heiraten, Kinder zu gebären und der Familie zu dienen. Heirat und Scheidung unterliegen noch immer dem religiösen jüdischen Gesetz, der Halacha, und werden von Rabbinatsgerichten entschieden – meist zum Nachteil der Frauen. Benachteiligung herrscht aber auch auf dem Arbeitsmarkt: Nur 45 von 100 Frauen arbeiten, und nur 2 von 100 in leitenden Positionen; von den weiblichen Führungskräften meinen sechzig Prozent als Frauen diskriminiert zu werden. Frauen verdienen im Schnitt vierzig Prozent weniger als Männer. „Israel ist in Menschenrechtsfragen progressiv, aber geradezu rückständig, wenn es um Frauenrechte geht“, sagt Donatella Orsini, Mitarbeiterin der feministischen Organisation Kol Ha-Isha (Stimme der Frau).

Kein Wunder, daß Frauenthemen in dieser militärisch geprägten und von der nationalen Frage beherrschten Gesellschaft bislang keine Rolle spielten. Indes, anders als in der parlamentarischen Politik, sind Frauen spätestens seit der Intifada außerparlamentarisch auffallend aktiv. Vor allem Frauen waren es, die die Friedensbewegung trugen. Noch heute demonstrieren die „Women in Black“ jeden Freitag im Zentrum von Jerusalem gegen die Besatzungspolitik. Der Nahost-Friedensprozeß in der ersten Hälfte der neunziger Jahre und der wirtschaftliche Aufschwung haben die Gesellschaft geöffnet und die Werte gewandelt – weg von sozialistischen Idealen und dem Glauben an das Kollektiv, hin zu Kapitalismus und Individualismus. Ein Wandel, der am Image der Armee zu kratzen beginnt: Wohlstand kommt vor persönlichen Opfern. Die zunehmende Partikularisierung, bei der die verschiedenen ethnischen Bevölkerungsgruppen immer lauter ihr Mitspracherecht fordern, hat auch einen Demokratisierungsprozeß in Gang gesetzt, der zuvor durch die allgemeine Konzentration auf die nationale Sicherheit gebremst worden war. Auf dem Wege zu einer „Normalisierung“ ist so auch Raum für Frauenthemen entstanden: In den vergangenen Jahren wurden verschiedene Gesetze zur Besserstellung der Frau erlassen. „Als ich in die Knesset kam, war ich schokkiert, daß es noch keinen Ausschuß für Frauenrechte gab“, sagt Yael Dayan, Abgeordnete von Labour. „Die halbe Bevölkerung wurde diskriminiert!“ Dayan setzte Anfang der neunziger Jahre verschiedene Ausschüsse zu den Themen Frauen und Homosexualität durch. Sie will auch in der nächsten Legislaturperiode die gesetzliche Lage der Frauen verbessern. Die Frauenquote in ihrer Partei soll in der kommenden Knesset allerdings erst auf 25 und bis 2010 auf 40 Prozent angehoben werden.

„Die Frauen in den anderen Parteien waren gegen uns“

An der Basis entstanden unterdessen zahlreiche politische und soziale Frauenorganisationen. Auch in Wissenschaft und Medien gewinnen Frauen weiter an Einfluß. Anfang dieses Jahres ging zum zweiten Mal die Frauenpartei Yesh in den Wahlkampf. „Die Frauen in den anderen Parteien waren aber gegen uns“, so die Vorsitzende Esther Hertzog. „Sie hatten Angst, daß wir ihnen die Stimmen wegnehmen.“ Yesh zog sich Ende März aus „organisatorischen Gründen“ aus dem Wahlkampf zurück. Doch während eine neue Offenheit für innenpolitische Probleme besteht, ist auch eine gegenläufige Entwicklung zu beobachten: Der „Kulturkampf“ zwischen den ethnischen Bevölkerungsgruppen, vor allem aber der zwischen den säkularen und orthodoxen Israelis, ist gleichzeitig eine Gefahr für die Demokratie. Die Nationalreligiösen, deren Einfluß seit der Wahl von Netanjahu und dem Likud weiter zugenommen hat, gelten als antidemokratisch und haben kein Interesse, die Stellung der Frau zu verbessern. Für sie steht vielmehr die Rettung des biblischen Landes Israel auf der Agenda. Der Zusammenbruch des Friedensprozesses und die weltweite Rezession haben einstweilen nun auch die israelische Wirtschaft beschädigt: Die Inflationsrate ist 1998 auf 8,6 Prozent gestiegen, die Arbeitslosenrate auf fast 10 Prozent. „Die vergangenen drei Jahre unter Bibi waren schrecklich, besonders für Frauen“, sagt Anat Ma'or. In der nächsten Knesset will sie für eine höhere Frauenquote, gleiche Gehälter, für mehr Frauenhäuser und gegen sexuelle Belästigung und Gewalt in der Familie kämpfen. Ob der zusammengebrochene Friedensprozeß wieder anlaufen und die Gesellschaft sich weiter öffnen wird oder ob das Gros der Israelis sich zunehmend rückwärts besinnen und von der Außenwelt isolieren wird, hängt wesentlich vom Ausgang der kommenden Wahl ab. Die Frauen jedenfalls hätten bei einer Bestätigung der jetzigen Machtverhältnisse mehr zu verlieren als die Männer.

Alexandra Senfft, 37, freie Journalistin und Nahostexpertin, schreibt unter anderem für die „Zeit“. Sie lebt in der Nähe von Cuxhaven.