Nachruf auf Nelson Mandela: Ein Held, kein Heiliger

Er wurde vom wütenden Freiheitskämpfer zum friedlichen Schöpfer eines demokratischen Südafrikas. Mandela bleibt die Ikone des Antirassismus.

Symbolfigur der Versöhnung: Nelson Mandela Bild: ap

Die kostbaren, fast magischen Augenblicke mit uTata, dem Vater, waren schon seit Jahren selten geworden. Sein Winken besaß unglaubliche Anziehungskraft, dazu das strahlende, sanfte Lächeln, das der würdige alte Mann in die ganze Welt hinaustrug. Sein Charme nahm jede Seele für ihn ein.

Seit Jahren hat niemand mehr in der Öffentlichkeit diese friedvollen, beruhigenden Gesten zu sehen bekommen, und nun sind sie für immer erloschen. Nelson Mandela ist gegangen. Er hinterlässt ein von seiner moralischen Größe inspiriertes Südafrika – mit großen Herausforderungen, die Mandelas Traum von einer nichtrassistischen Regenbogengesellschaft überschatten.

Madiba, wie Nelson Mandela in Südafrika nach seinem Clannamen respektvoll genannt wurde, war bereits zu Lebzeiten die Ikone des Kampfes der schwarzen Bevölkerung für Freiheit, für Gleichberechtigung, für ein Ende der Apartheid, die ab 1948 unter der Herrschaft der rechten burischen Nationalpartei immer brutaler geworden war. Mandela zerbrach nicht an dieser Brutalität. Trotz großem Leid behielt er die Fähigkeit zu Versöhnung und Vergebung und wusste sie politisch für sein Land umzusetzen. Das ist die Lebensleistung, die über seinen Tod hinaus in Erinnerung bleiben wird.

Ein Jahr vor seiner Wahl zum Präsidenten erhielt er 1993 dafür den Friedensnobelpreis – zusammen mit Südafrikas letztem weißen Staatschef Frederik Willem de Klerk, mit dem er den Übergang von Apartheid zu Demokratie gestaltet hatte. Mandelas Bereitschaft, mit dem Erzfeind zusammenzuarbeiten, befremdete damals noch viele Schwarze. Aber schon in der Haft auf der Gefängnisinsel Robben Island war er in der Lage gewesen, seine weißen Wächter zu respektieren und sie für sich zu gewinnen. Er holte das Beste aus den Menschen raus, auch aus seinen Gegnern. Die Nelson-Mandela-Stiftung wirbt heute mit seiner Häftlingsnummer 46664.

Radikaler im ANC

Zur Führungsrolle wurde Rolihlahla Mandela, der seinen christlichen Vornamen Nelson erst in der Schule erhielt, schon von klein auf erzogen. Sein Urgroßvater war König der Thembu-Dynastie des Xhosa-Volkes, sein Vater Häuptling in Mvezo, ein Dorf im ärmlichen Ostkap. In seiner traditionsgeprägten Kindheit formten sich Mandelas Werte.

Aus seiner ländlichen Heimat trat Mandela heraus, indem er in Fort Hare, der einzigen Universität für Schwarze in Südafrika damals, Jura studierte. 1952 eröffnete er in Johannesburg Südafrikas erste schwarze Anwaltsfirma mit Oliver Tambo, dem späteren Präsidenten des Afrikanischen Nationalkongresses (ANC), der Befreiungsbewegung der Schwarzen. Dort lernte Mandela Walter Sisulu kennen, seinen politischen Mentor. Und Winnie Mandela, die erste schwarze Sozialarbeiterin des Landes. Für die junge schöne Aktivistin schlug sein Herz. Für sie ließ er sich von seiner damaligen Frau Evelyn scheiden.

Der junge Mandela gehörte zu den Radikalen im ANC, die den bewaffneten Befreiungskampf favorisierten, nachdem friedliche Proteste gegen die Apartheid erfolglos geblieben waren. „Es ist falsch und unmoralisch, unsere Leute dem bewaffneten Kampf des Staates auszusetzen, ohne ihnen irgendeine Art von Alternative anzubieten“, sagte er. 1961, damals im Kontext der schwarzen Freiheitskämpfer der USA wie Martin Luther King, war Mandela Mitgründer des bewaffneten ANC-Flügels „Umkhonto we Sizwe“ (Speer der Nation).

Das geschah gegen den Willen prominenter Mitstreiter. ANC-Präsident Albert Luthuli, Verfechter des gewaltlosen Widerstands, erhielt 1961 den Friedensnobelpreis, und kurz danach fanden unter Mandelas Führung Terror- und Sabotageakte des ANC in Südafrika statt.

1962 wurde Mandela als Terrorist verhaftet und 1964 zu lebenslanger Haft verurteilt. Nach dem Ende dieses berühmt gewordenen Prozesses saßen die klügsten Köpfe des ANC bis auf weiteres hinter Gittern und gerieten fast in Vergessenheit.

Umdenken in der Haft

Mandela war kein Pazifist, aber in den Gefängnisjahren reifte seine Erkenntnis, dass der bewaffnete Widerstand, zu dem er vor seiner Haft beharrlich aufgerufen hatte, die Apartheid nicht tötet, sondern stärkt. Die langen Jahre auf der Gefängnisinsel Robben Island lehrten Mandela Selbstkontrolle, Disziplin, Geduld und Konzentration – wichtige Führungsqualitäten, die er hervorragend zu nutzen wusste, als in den 1980er Jahren Geheimverhandlungen mit dem Apartheidregime einsetzten.

Seine Mitstreiter vom ANC lehnten Gespräche mit dem Regime ab – Mandela spielte aber wieder einmal ein riskantes Spiel. Er setzte seine Ausstrahlung ein und die Würde, die auch seine Gegner an ihm bewunderten. Der gealterte Gefangene inszenierte jedes Detail seiner Begegnungen mit den Weißen, die ihn im Pollsmoor-Gefängnis von Kapstadt besuchten, mit Bedacht, ganz der Staatsmann.

Die Weißen kamen ihm entgegen. Seine „comrades“ im ANC fürchteten, Mandela könnte zu große Kompromisse eingehen. Aber schließlich schlug der ANC moderate Töne an, die Guerillabewegung war gestorben und die Apartheid streckte die Waffen. Als er im Februar 1990 aus dem Victor-Verster-Gefängnis bei Kapstadt Hand in Hand mit seiner Ehefrau Winnie Mandela in die Freiheit schritt, war es nicht nur der Sieg einer Person, sondern der Triumph einer politischen Überzeugung.

Weil in den Jahren nach seiner Freilassung 1990 ein Bürgerkrieg zu drohen schien, bestärkten die weißen Wirtschaftsbosse den ANC, ein Konzept für einen Neuanfang vorzulegen. Mandelas Weitblick überzeugte und ebnete den Weg zur Demokratie. Nicht Rache brachte Mandela ans Ziel, sondern kluge Dialogführung und scharfsinnige Diplomatie. Er folgte nicht einer feststehenden Strategie, aber er blieb sich grundsätzlich treu. Seine Stärken: auf Menschen zugehen, Vertrauen aufbauen, Kluften überwinden.

Politisch gewagt: Mandela feiert den Rugby-Weltmeistertitel 1995 Bild: ap

Rugby als Vehikel für Versöhnung

Eine große Stunde des ehemaligen Amateurboxers Mandela war die Rugby-Weltmeisterschaft in Südafrika 1995. Viele Buren fühlten sich damals, kurz nach Amtsantritt des ersten schwarzen Präsidenten, existenziell bedroht. Mandela nutzte nun den von Schwarzen als „Symbol der Apartheid“ abgelehnten Rugby-Sport als Vehikel für Versöhnung. Unvergessen bleibt der Moment, als Präsident Nelson Mandela im grünen Trikot Nr. 6 des Mannschaftskapitäns der „Springböcke“ nach dem WM-Sieg Südafrikas im Ellis Park Stadion auf das Spielfeld tritt und den weißen Mannschaftskapitän Francois Pienaar umarmt. Das Stadion brüllte: „Nelson, Nelson!“

Zum Mythos war Nelson Mandela bereits im Gefängnis geworden. „Free Mandela“ war ein globales Anliegen der Linken. „Ich bin bereit, für meine Ideale zu sterben“ – dieser Satz aus Mandelas Prozess 1964 ist weltberühmt geworden. „Er ging als wütender junger Mann ins Gefängnis und kam als freier, liebender Mensch heraus“, sagte Bill Clinton 2003.

Mandela ist kein Heiliger. Er ist Südafrikas Held, aber keineswegs perfekt. Mandela sah sich selbst als afrikanischen Patrioten, auf allen politischen Bühnen zu Hause. Die Befreiungsbewegung war sein Leben – die Familie, wie er selbst sagt, zeigt sein Versagen.

Er kann stur und pingelig sein, sagte seine letzte Ehefrau Graça Machel, die Witwe des früheren mosambikanischen Präsidenten Samora Machel. Sie heiratete Nelson Mandela an dessen 80. Geburtstag, nachdem er sich von seiner langjährigen Frau Winnie getrennt hatte.

Nur zwei gemeinsame Jahre waren dem jungen Paar vor Mandelas Verbannung auf die Gefängnisinsel vergönnt gewesen. Als sie wieder zusammenkamen, hatten sie sich auseinandergelebt. Während Nelson in der Haft saß, war Winnie ein internationaler Star geworden, hatte politische Aktivitäten und private Affären entwickelt.

Hilflosigkeit und Schmerz

Aus dem 2011 veröffentlichten Buch „Conversations with Myself“, das private Briefe und Notizen aus Mandelas Haftjahren versammelt, geht seine Einsamkeit hervor: Wie sehr er Winnie vermisste, wie er seine Eifersucht nicht zeigte, wenn sie andere Männer „draußen“ hatte. Aber auch seine Hilflosigkeit und sein Schmerz, als ihm die Erlaubnis verweigert wird, der Beerdigung seiner Mutter und seines jungen Sohnes aus erster Ehe beizuwohnen.

1996 ließen die Mandelas sich scheiden. Im Gerichtssaal herrschte Anspannung, beide sahen sich nicht einmal an. „Ich war der einsamste Mensch, während ich bei ihr war“, sagte er.

In seinen fünf Jahren als Präsident Südafrikas zwischen 1994 und 1999 tat sich Mandela durch Zielstrebigkeit, aber auch große Vorsicht hervor. Versöhnung und Stabilität standen im Mittelpunkt und der Wille, endlich in Südafrika eine geeinte Nation zu formen. Er tat, was möglich und nötig war. Der Vorwurf, zu nachsichtig gewesen sein, begleitete ihn danach sein Leben lang.

Doch hätte er als Präsident weiße Interessen stärker herausgefordert, wäre Südafrika möglicherweise nicht stabil geblieben. Zum bleibenden Erbe dieser Zeit gehört Südafrikas Verfassung, die als eine der fortschrittlichsten der Welt gilt. Die Frage „Was ist, wenn Mandela geht?“ stellte sich allerdings schon damals.

Seinen Ruhestand gestaltete er selbst. „Don’t call me, I call you“, grinste er 2004 schelmisch in die Kameras, als er den Rückzug aus der Politik ankündigte. Er reiste auch danach weiter um die Welt, traf Stars und Staatschefs, Rebellenführer und Geschäftsleute. Er warb mit seinem Image für sein Land und weinte, als Südafrika die Fußball-WM bekam.

Gekleidet in Designerhemden afrikanischen Stils, tanzte er mit steifen Bewegungen seinen „Madiba Jive“, küsste Models bei Empfängen und hatte stets einen Blick für schöne Frauen, die er gekonnt in Verlegenheit brachte, aber auch für die Unscheinbaren im Hintergrund. Er war ein charismatischer Greis, seine Aura war faszinierend.

Mandela verbrachte gerne Zeit mit Kindern (hier 2007) Bild: ap

Das Gewissen der Nation

Mit Vorliebe machte Mandela Überraschungsbesuche bei großen und kleinen Leuten. Ein Junge wird ihn in besonderer Erinnerung behalten: In seiner Nachbarschaft wünschte sich der 13-jährige Craig Joseph sehnlichst, dass Madiba zu seiner Bar-Mizwa kommt, dem jüdischen Konfirmationsfest, und brachte ihm eine Einladung. Gefolgt von riesiger Freude, als Mandela tatsächlich zur Party auftauchte.

„Mkhulu“, der Großvater, zeigte seine Liebe für Kinder oft bei Benefizveranstaltungen für den Nelson Mandela Children’s Fund, einem seiner Hauptanliegen als Pensionär. Südafrikas Schulen legen bis heute Wert darauf, Mandelas Erbe zu vermitteln. Sein Geburtstag, der 18. Juli, ist in Südafrika „Mandela Day“ und soll ein Tag sein, an dem Gutes getan wird.

Nun entlässt der Großvater seine Enkel. Wenn Südafrika von ihm lernen kann, den offenen Dialog zu führen und den Kampf für eine gerechtere Gesellschaft nicht aufzugeben, dann bleibt Mandelas Traum lebendig. Er repräsentiert das Gewissen der Nation und das auch über seinen Tod hinaus.

Zuletzt trat er bei der Fußball-WM 2010 auf. Da bezauberte er noch einmal die Welt für ein paar Minuten mit seinem Lächeln und Winken, mit seiner Madiba-Magie. Erzbischof Desmond Tutu warnt davor, ihn auf ein Podest zu stellen. Aber: „Er ist Gottes Geschenk an Afrika und Südafrikas Geschenk an die Welt.“

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