Ottos Orientierungen

■ 100 Tage Rot-Grün (3). Manchmal redet Schily für die Stammtische, manchmal wie ein aufgeklärter Kulturbürger: Ambivalenz als Programm

100 Tage Rot-Grün? Mein Mann heißt Schily. Otto Schily ist neu. Kein Politiker sieht so ungezeichnet aus. Er bedient weder ein Politiker-Stereotyp noch ein kulturelles. Würde man ihm zum ersten Mal bei einer Weinprobe, einem Konzert des Art Ensemble of Chicago oder einer Lesung von Toni Morrison begegnen, man wäre weder überrascht, noch könnte man andere Daten aus seiner Erscheinung oder seinem Erscheinen bei dem jeweiligen Event ableiten. Unsere Eliten werden undurchsichtiger. Wie alle avancierten Typen unserer Tage geben sie viel darauf, daß man aus einer Orientierung (“Volles Boot“, „Die Polizei stärken!“) die andere (Feinsinn, Durchsetzen einer tatsächlich epochalen Reform des Staatsbürgerrechts) nicht ableiten kann.

Diese neue Undurchsichtigkeit gilt für das Rot-Grün-Kabinett in unterschiedlich ausgeprägter Weise, aber ganz besonders für Schily, während doch Schröder noch als Old-School-Machtmensch, der einfach nicht nein sagen kann, wenn ihn ein armer Atomlobbyist mit seinen großen traurigen Augen ansieht, leicht erfaßbar ist, und die masochistische Psyche des Flagellanten Fischer liegt vor uns wie ein offenes Buch des frühen Freud.

Aber Schily ist weit vorn. In dem Maße, in dem die Herrschenden und ihre (Funktions-)Eliten sich aus immer obskureren, überraschenden Typen zusammensetzen, die auch mal Vorlieben haben, auf die man nie gekommen wäre, werden die Beherrschten immer transparenter. Und auch daran hat Schily seinen Anteil. Ich meine damit nicht den gläsernen Bürger, der dem Innenminister ein Anliegen ist, sondern die Verlagerung der Gegensätze von Abstrakta auf Konkreta.

Gesellschaftliche Unterscheidungen werden nicht mehr als politische Abstrakta wie „Klassengegensätze“ vermittelt, sondern als urbane, kulturelle oder stilistische Konkreta erlebt. Obdachlose werden als Penner erkennbar und mit Platzverboten belegt. Bildhafte, oft rassistisch getunte städtische Alltagskonflikte und Spannungen treten in der Öffentlichkeit an die Stelle von Interessengegensätzen. Style Wars dienen wiederum kaum noch taktisch gesetzten subkulturellen Differenzen, sondern markieren Klassengegensätze. Legale Unterschiede zwischen Inländer und Ausländer werden als kulturelle bebildert und dramatisiert.

Es war die traditionell sozialdemokratische Aufgabe der neuen Mitte, auch den Restlinken wenigstens einen Grund zu geben, warum man sie und nicht gleich die Anarchistische Pogo Partei wählen soll. Dies gelang vor allem durch das Inaussichtstellen eines neuen Staatsbürgerschaftsrechts, das wenigstens eine Differenz aus der Welt der Alltagsrassismen und Zuschreibungen zurück auf den Boden geregelter Verfahren holen würde und damit zur Repolitisierung beitragen würde.

Durch das Issue Staatsbürgerrecht wäre auch die Linke zum ersten Mal seit der Einführung des „Asylkompromisses“ wieder auf ein realpolitisches Thema verpflichtet. Sie könnte im Kontinuum der politischen Orientierungen wieder ihre dringend benötigte Rolle spielen, sozialdemokratische Reformen dort und so weit zu unterstützen, wie sie eine Verbesserung gegenüber dem völkischen Status quo bringen, und gleichzeitig die rot-grüne Mitte unter Druck zu setzen, indem sie die Schwächen der Reform anprangert: zum Beispiel den Asylkompromiß nicht einmal als Thema zur Disposition zu stellen – daß es eine Mehrheit für eine Verfassungsänderung nicht gäbe, ist klar.

Immerhin hat es die neue Regierung in weniger als hundert Tagen geschafft, wenigstens einige kontroverse Reformthemen zu benennen, auch wenn die zugehörigen Taten meist nicht folgen werden: Nato-Strategie (Fischer), soziale Verantwortung der Bundesbank (Lafontaine) und Atom- Ausstieg (Trittin) – auch das gibt der Linken die Möglichkeit, zwischen immer schon falschen Ansätzen und richtigen, aber zurückgezogenen Vorschlägen zu unterscheiden und eine entsprechende Kritik zu formulieren, die sich im Kontinuum möglicher Reformwerke bewegt, statt wie bisher ganz von außen zu argumentieren. Daneben gibt es einige Vorhaben, die Chancen haben, und die sind – wie nicht anders zu erwarten – weniger auf der ökonomischen Ebene als auf der von Bürgerrechten zu suchen: Anti-Diskriminierungs- Gesetz, Gleichstellung schwuler und lesbischer Lebensgemeinschaften etc.

Daraus und schließlich auch aus dem brisantesten und interessantesten Vorhaben, der Reform des Staatsbürgerrechts, folgt, daß sich die gegenwärtig zerstreute Linke am besten als Bürgerrechtsbewegung reformiert, die anhand der Schwächen und Grenzen derjenigen rot-grünen Vorhaben, die nicht von vornherein nur Kapitalismus as usual darstellen, eine Kritik formuliert, die Opposition wieder auf den Boden der politischen Möglichkeiten stellt.

Mit dem nun von der Union und in deren Gefolge sicherlich auch bald von bekennenden Rechtsradikalen mobilisierten völkischen Volksempfinden könnte dieser Regierung bald ein Konflikt ins Haus stehen, der diese Gesellschaft wieder deutlich erkennbar in Rechte und Linke spalten wird. Zum ersten Mal seit der Ostpolitik der frühen Siebziger ist ein solcher Rechts-links-Konflikt auch wieder parlamentarisch repräsentiert, der Riß durch die Gesellschaft geht auch durchs Parlament. Man sollte sich allerdings davor hüten, diese Links-rechts-Differenz mit der alten gleichzusetzen. Ein großer Teil der gesellschaftlichen Gegensätze bleibt durch sie unsymbolisiert. Anderes wird fehlsymbolisiert: etwa ein weltoffener westerwelliger Yuppie als Linker.

Zu den traditionellen Aufgaben sozialdemokratischer Politiker gehört auch, bei der Linken gar nicht erst gute Laune aufkommen zu lassen. Nicht nur, daß sich die Rahmenbedingungen des neuen Staatsbürgerrechts natürlich in mancher Hinsicht an den bekannten Zuschreibungen orientieren und sie damit kulturell verstärken. Der Vater eines Brandenburger Jugendlichen, der regelmäßig seinen dunkelhäutigen Klassenkameraden verprügelt, rechtfertigte dessen Handeln neulich vor laufender Kamera damit, daß „ja selbst der Herr Schily sagt, die Wanne ist voll“.

Das Wasser steht ihnen schon bis zur Wampe, und der deutsche Paß nutzt dem 11jährigen Opfer wenig. Es ist vor allem das unerwartet harsche und bestimmte Auftreten Schilys als Law-and-order-Vertreter, das in die neue Mitte integriert, was schon die bürgerliche Rechte bisher nicht mehr aufnehmen wollte. Gleichzeitig ist es aber – sozialdemokratische Doppelstrategie – sein ebenso entschiedenes Auftreten für die doppelte Staatsbürgerschaft, was Schily als konsequenten Ehrenmann aus den 100 Tagen hervorgehen läßt, der weiß, wo er langwill, während die anderen nur schlittern. Er repräsentiert aus linker Perspektive den bösen Sozi ebenso wie den möglichen Bündnispartner.

Das Publikum orientiert sich aber am vermeintlich einfachen und verläßlich anschaulichen Signifikanten, wenn es sich durch den negativen Zusammenhalt des Ausschlusses vor dem sozialen Abstieg in Sicherheit bringen will. Schilys verantwortungsloses Spiel auf dieser Klaviatur nimmt vorweg, wie auch mit dem neuen Staatsbürgerrecht zwischen guten und schlechten, deutschfähigen und gefährlichen Ausländern unterschieden werden wird. Das an konkreten Images und Stereotypen orientierte Publikum wird sich nur schwer an die antirassistische Grundidee eines nicht oder weniger abstammungsbezogenen Staatsbürgerrechts gewöhnen, wenn dessen Durchsetzung weiterhin mit Zuschreibungen orchestriert wird. Dennoch bleibt natürlich nichts anderes übrig, als Schilys Gesetzesvorlage zu unterstützen.

Otto Schily bleibt als der große Unbeschreibbare, der Kulturmensch mit wenig bekannten Leidenschaften das Gegenbild zu den Gegenständen seiner Politik, die sich wie alle Marginalisierten und nur von außen Repräsentierten immer massiverer Zuschreibungen erwehren müssen. Doch die Undurchsichtigkeit einer neuen Politikersorte zwingt auch dazu, die Auseinandersetzung mit ihnen wieder zu politisieren – statt sich wie in den vergangenen Jahrzehnten darauf zu verlassen, daß man diesen Typen ja nur ins Gesicht zu sehen braucht. Diedrich Diederichsen