Geburtenstatistik um Gorleben: Sag, wo die Mädchen sind

Im Umfeld des Zwischenlagers Gorleben kommen auffällig mehr Jungen zur Welt.

Gorleben steht nicht allein. Ähnliche Befunde gibt es im Umfeld von Atomanlagen und Tschernobyl. Bild: dpa

DEUTSCHLAND zeo2 | Friedrich-Wilhelm Schröder, Bürgermeister in Gartow bei Gorleben, hat einen klaren Standpunkt. Diese ganze Geschichte werde „unnötig hochgespielt“ und sei „an den Haaren herbeigezogen“. Unregelmäßigkeiten in der Geburtenstatistik habe es schon immer gegeben. Mal gehe es den Menschen eben gut, mal nicht so gut. Vielleicht hätten ja auch die Schadstoffe der Elbe aus dem Osten einen unheilvollen Einfluss gehabt. Er sei jedenfalls „überhaupt nicht beunruhigt“.

Dennoch werde er sich nicht gegen ein Expertenhearing wehren, das sein Gemeinderat jetzt schon zum zweiten Mal gefordert hat. Anders als den Bürgermeister versetzt „diese Geschichte“ viele Menschen in der Region in Unruhe. Was sie besorgt, ist eine überraschende Auffälligkeit in der Geburtenstatistik, die man als „Geschlechterlücke“ bezeichnet: Rund um Gorleben kommen zu wenig Mädchen auf die Welt.

Das Verhältnis der Geschlechter hat sich hochsignifikant zugunsten der Jungen verschoben. Und Gorleben steht nicht allein. Es reiht sich ein in ähnliche Befunde im Umfeld von Atomanlagen und in Regionen, die vom Tschernobyl-Fallout betroffen waren: überall zu wenig Mädchen.

Im Münchner Helmholtz-Zentrum befasst sich eine Gruppe um den Biomathematiker Hagen Scherb mit dem Problem. Ihre Ergebnisse sind so eindeutig, dass Scherb es als „Treppenwitz der Wissenschaftsgeschichte“ bezeichnet, wie die überall verfügbaren und einfach zu interpretierenden Zahlen – das Verhältnis zwischen neugeborenen Jungen und Mädchen – im Hinblick auf Strahlenwirkungen ignoriert werden. 

Zufall ausgeschlossen

Nur in einigen wenigen Veröffentlichungen seit den 50er Jahren wurden sie ernsthaft statistisch untersucht. Die eigenen Befunde der Scherb-Gruppe sind dramatisch und ergeben eindrückliche Kurven. Es gilt statistisch als ausgeschlossen, dass es sich dabei um Zufall handelt.

Ihre letzte, besonders eindrucksvolle Datenanalyse im Umfeld des Zwischenlagers Gorleben veranlasste im Herbst 2011 das niedersächsische Landesgesundheitsamt zu einem Gegengutachten. Doch statt eines kräftigen Dementis wurden die Unregelmäßigkeiten amtlich bestätigt: Die Zahlen seien richtig berechnet, und statistisch betrachtet könne in der Tat kein Zufall vorliegen.

Laut Geburtenstatistik, so stellt auch das Amt fest, hat sich das Verhältnis von Jungen zu Mädchen in einem Radius von 40 Kilometern um das Zwischenlager seit 1995 deutlich verschoben – also genau zu dem Zeitpunkt, als die ersten heißen Transporte nach Gorleben rollten und die Einlagerung des Atommülls begann.

Von 1981 bis 1995 kamen 6.939 Jungen und 6.922 Mädchen zur Welt, das Geschlechterverhältnis lag bei 1,0025. Für den Zeitraum 1996 bis 2010 springt es auf 1,0865: den 12.047 Jungen stehen nur 11.088 Mädchen gegenüber, fast tausend zu wenig. Auch mehrfach variierte Rechenmethoden und veränderte Radien können nichts daran ändern: das Ergebnis ist eindeutig.

Für die Gegengutachter bleibt jeder Erklärungsversuch „rein spekulativ“. Bild: dpa

Dennoch sind die Gegengutachter überzeugt, dass dieser Effekt keinesfalls durch das Castor-Lager erklärlich sei. Sie listen zahlreiche Umstände auf, die ebenfalls zu „verlorenen Mädchen“ führen könnten: vom „Körpergewicht der Mutter“ über „Chemikalien“ bis zu „Gravitationskräften“. Am Ende bleibt für die Gegengutachter jeder Erklärungsversuch „rein spekulativ“, das Phänomen rätselhaft.

Entgegen der Argumentation des Amts erscheint es allerdings absolut plausibel, einen Zusammenhang zur Radioaktivität zu vermuten. Erst recht, wenn man weiß, dass auch nach den Kernwaffentests der Atommächte und der Tschernobyl-Katastrophe in den Fallout-Regionen Mädchen „fehlten“. Auch in der Umgebung des Atommülllagers Asse im Kreis Wolfenbüttel und an anderen europäischen Atomstandorten liegen vergleichbare Befunde vor.

Bio-Mathematiker Scherb war erstmals 1997 auf das Phänomen aufmerksam geworden, als er nach dem Super-GAU in der Ukraine die gestiegene Zahl der Totgeburten in Europa untersuchte und „eine Mitarbeiterin entdeckte, dass es deutlich mehr Buben waren“. Wo waren die Mädchen geblieben?

Bei den Lebendgeburten nach Tschernobyl sah Scherb dasselbe Phänomen – ein unnatürliches Geschlechterverhältnis. 2007, zehn Jahre später, folgte seine erste wissenschaftliche Publikation, den Bio-Mathematiker hat das Thema nicht mehr losgelassen. Zuletzt hat die Gruppe auf Initiative von Scherbs Kollegen Ralf Kusmierz die Geburtenstatistik an 32 europäischen Atomstandorten untersucht.

Jungen sterben seltener

Vier Standorte zeigen signifikante Befunde, bei anderen ist die Lage auch aufgrund niedriger Fallzahlen weniger klar. Aber die Summe der Geburtenzahlen aller 32 Standorte weist wiederum signifikant zu wenig Mädchen auf. Die auffälligsten Zahlen kommen ausgerechnet aus Gorleben. Zwingende Schlussfolgerung: Künstliche Radioaktivität kann auch unterhalb der Grenzwerte die Geburtenstatistik verändern.

Es kommt offenbar häufiger zu gescheiterten Schwangerschaften, weil befruchtete Eizellen – vermutlich sehr früh – wieder sterben. Für die Mütter bleibt das häufig unbemerkt, und der Verlust wird auch statistisch nirgends erfasst. Trotzdem lässt er sich statistisch beweisen, weil Jungen seltener sterben als Mädchen und also weniger Mädchen zur Welt kommen.

Strahlenbiologisch ist das Phänomen der „verlorenen Mädchen“ gut zu erklären: Menschen in frühen Entwicklungsstadien haben eine vielfach höhere Strahlensensibilität. Sie dürfte bei Embryonen, im Vergleich zu Zellen Erwachsener, mindestens 20- bis 40-fach höher sein, und man muss vermuten, dass sie in den ersten Lebenstagen nochmals erhöht sein kann – manche meinen sogar bis zu 1.000-fach.

Es ist unbestritten, dass weibliche Organismen empfindlicher auf ionisierende Strahlung reagieren als männliche. Diese höhere Sensibilität besteht auch bei erwachsenen Frauen, sie wird 1,5- bis 2-mal höher angesetzt. Das unerklärliche Phänomen besteht also vor allem in den Köpfen einer Expertengemeinde, die mit großer Mehrheit auf die Grenzwerte der Internationalen Strahlenschutz-Kommission ICRP fixiert ist.

Zusätzliche Strahlung auch in kleinster Dosis vermehre die Anzahl von Mutationen. Bild: dpa

Doch Radioaktivität kennt weder Schwellen- noch Grenzwerte. Seit 1950 beantwortet die IRCP die Frage nach dem genetischen Risiko von Radioaktivität ganz wie Radio Eriwan: „Ja, im Prinzip vermehrt zusätzliche Strahlung auch in kleinster Dosis die Anzahl von Mutationen – aber nein, sofern die Dosen nur klein genug sind, bleibt diese Zunahme unmessbar klein.“

Für die Praxis hatten die Strahlenschützer anhand ihrer Daten aus Tierversuchen und aus Hiroshima eine „Verdoppelungsdosis“ errechnet: einen Strahlenwert, bei dem sich die Anzahl von Mutationen – gegenüber der „normalen“ Häufigkeit – vermutlich verdoppeln würde. Von diesem Wert ausgehend, schlossen sie auf einen „sicheren Grenzwert“, der weniger als ein Tausendstel der Verdoppelungsdosis beträgt.

Seitdem stehen sie im Glauben fest: Bleibt die Strahlenbelastung aus künstlichen Quellen unterhalb dieses Werts, treten genetische Schäden beim Menschen so selten auf, dass sie statistisch nicht nachweisbar sind. Dem widersprechen nun die verlorenen Mädchen. Zudem musste die ICRP verschiedene Grenzwertempfehlungen für Atomarbeiter und Allgemeinbevölkerung immer wieder überarbeiten und senken.

Sie bilden weltweit die Grundlage praktisch aller gesetzlichen Regelungen. Zunächst schienen sie ihren Zweck auch zu erfüllen, denn bis auf wenige, immer heftig bestrittene Ausnahmefälle gelang kein einziger statistischer Beweis für genetische Schäden, sofern die Grenzwerte nicht überschritten wurden.

Mutationen und Fehlbildungen

Dann kam Tschernobyl, und in den Fallout-Gebieten in Nord- und Westeuropa traten plötzlich vermehrt Mutationen und Fehlbildungen auf, vor allem Down-Syndrome und Lippen-Kiefer-Gaumenspalten, aber auch mehr Totgeburten und Herzfehler. Selbst in schwach belasteten Gebieten fehlten in den Folgejahren je nach Dosis des Fallouts mehr oder weniger viele Mädchen.

Zudem kamen in Europa von 1986 bis 2010 – unabhängig vom Geschlecht – rund eine Million Kinder zu wenig zur Welt, verglichen mit den Geburtenraten vor der Katastrophe. Nach gültigen Modellen und Grenzwerten dürften solche Wirkungen aber nicht zu beobachten sein. Und auch im Umkreis der „sicheren“ kerntechnischen Anlagen müsste das Geschlechtsverhältnis unauffällig sein.

Die dort mit heutigen Methoden gemessene künstliche Radioaktivität ist sehr klein gegenüber der ähnlich gemessenen „natürlichen Hintergrundstrahlung“, die alle Menschen in gleicher Weise erreicht und je nach Wohnort erheblich schwankt. Sie dürfte sich eigentlich nicht bemerkbar machen. Das aber bedeutet: Die bisher verwendeten Methoden, „natürliche“ und „künstliche“ Radioaktivität physikalisch zu messen und zu einer biologisch wirksamen Dosis zu verrechnen, sind offenbar grundlegend falsch.

Worin der Fehler besteht, ist längst nicht klar, aber es hat vermutlich nicht die gleiche Wirkung, wenn Neutronen aus dem Weltall oder Neutronen aus einem Castor den Körper treffen, auch wenn sie physikalisch ähnlich sind. Es macht vielleicht doch einen großen Unterschied, ob Radioaktivität etwa als natürliches Kalium oder Radon den Körper erreicht oder in Form künstlicher Elemente.

Außerdem könnte es sein, dass die Messungen der Strahlung, so richtig sie physikalisch auch sind, längst nicht alle biologisch wirksamen Komponenten aufzeichnen. Zu oft schon wurde die Strahlenphysik von neuen Erkenntnissen überrascht. Die Befunde der Scherb-Gruppe reihen sich ein in die unaufhaltsame Entwicklung der modernen Strahlenbiologie.

25 Jahre nach Tschernobyl liegt die früher geschlossene Front der ICRP in Trümmern. Viel zu viele ähnlich gelagerte Beispiele für unvermutete Strahlenwirkungen wurden in den letzten Jahren aufgedeckt: etwa die zahlreichen chronischen Krankheiten, die nach dem Supergau in den verstrahlten Gebieten dokumentiert werden, aber auch die gesichert erhöhte Häufigkeit von Kinder-Leukämien in der Umgebung von Kernkraftwerken.

All diese Auffälligkeiten bringen zunehmend mehr Forscher ins Grübeln. Manche wollen die geltenden Rechenmodelle zum Teil um den Faktor 100 bis 1.000 korrigieren. Die verlorenen Mädchen liefern jedenfalls viel Diskussionsstoff. Auch für sie gilt – wie nach Fukushima – das Wort der Kanzlerin: „Wir haben eine neue Lage, und sie muss vorbehaltlos, rückhaltlos analysiert werden.“

Christoph Zink, der Artikel ist erschienen in der Ausgabe zeo2 2/12.

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