Voodoo in Benin: Der Baum der Kräfte

„Wenn du diese Farben siehst, heißt das: Aufpassen!“ Victor, der Priester, deutet auf den Baum. Ein Besuch auf einem Voodoo-Fest.

Eine Gruppe kommt aus dem Tempel heraus. Wer die langen bunten Ketten trägt, gehört zum Kreis der Initiierten – und nur der kann zum Fetisch werden. Bild: Katrin Gänsler

KPETEKPA taz | Victor Adohonannon wirkt erschöpft. Als sich der Voodoopriester auf das dunkelbraune Sofa gesetzt hat, nimmt er einen großen Schluck Wasser und wischt sich dann den Schweiß von der Stirn. Trotz der vielen geöffneten Fenster ist es heiß im Wohn- und Empfangszimmer, denn Strom gibt es nicht – stattdessen die Überbleibsel der vergangenen Abende: Vor dem Sofa stehen ein paar leere Whisky- und Weinflaschen. Auf einem kleinen Tisch liegen zusammengedrückte Bierdosen.

Vor drei Tagen ist Victor Adohonannon nach Kpêtêkpa, seinem Heimatdorf, zurückgekehrt. Es liegt gut eine halbe Stunde von der Stadt Abomey entfernt. Abomey ist die alte Hauptstadt des früheren Königreiches Dahomey, aus dem nach dem Ende der Kolonialherrschaft Benin wurde. Wenn es nicht geregnet hat, ist die Piste aus rotem Sand, über die der kleine Ort erreichbar ist, gut passierbar. Trotzdem, Fremde verirren sich nicht hierhin.

„Sie wollten mich in den vergangenen Tagen alle sehen“, sagt Victor Adohonannon und rutscht noch etwas tiefer ins Sofa. Gestern war der Bürgermeister hier, und die Ältesten des Dorfes und jene aus ein paar Nachbardörfern ohnehin. Für sie ist ein Besuch bei Adohonannon obligatorisch, denn er ist der spirituelle und religiöse Chef des Dorfes. Und im Januar ist er die wichtigste Person. Denn der Januar ist in Benin, wo gut 9,5 Millionen Menschen leben, der Voodoomonat. Mit dem 10. Januar hat die uralte Religion sogar einen eigenen, staatlichen Feiertag erhalten.

Voodoo ist eine mehrere tausend Jahre alte Religion, die ihren Ursprung im heutigen Benin hat. Voodoo leitet sich aus einem Wort des westafrikanischen Volkes der Fon für Geist ab. Es gibt einen Schöpfergott, der viele Kinder hat. Kommuniziert wird mit den Göttern in Form von Zeremonien oder Gesprächen. Jeder von ihnen hat bestimmte Aufgaben. Mami Wata etwa ist die Göttin der Fruchtbarkeit. Dargestellt wird sie häufig als eine Frau, die Leben und Genuss liebt. Nach den Vorlieben der Götter richten sich auch die jeweiligen Opfergaben. Mami Wata mag Alkohol, Süßigkeiten und auch Zigaretten. Seit 1996 ist der 10. Januar staatlich anerkannter Voodoofeiertag in Benin. Durch den Sklavenhandel kam im 18. Jahrhundert Voodoo in die Karibik. Haiti und die Dominikanische Republik sind die Zentren des dortigen Voodoo

Victor Adohonannon entschuldigt sich für fünf Minuten. Wohin er gehen will, sagt er nicht. Doch er bleibt über eine Stunde weg, und es ist klar, dass das etwas mit der großen Feier zu tun hat, auf die das ganze Dorf wartet. Es sind die letzten Vorbereitungen, die er treffen muss, bevor am Nachmittag der Höhepunkt der diesjährigen Voodoofeierlichkeiten stattfinden kann. Voodoo ist in keinem anderen Land so verbreitet und anerkannt wie in Benin. Offiziell bekennen sich mehr als 17 Prozent zu der Religion. Tatsächlich praktizieren dürften diese aber eine weitaus größere Zahl von Einwohnern.

Einen Gott mehr zu haben – wo ist das Problem?

In Benin gibt es oft eine Vermischung. Viele Menschen gehen nicht nur in den Sonntagsgottesdienst, sondern bei speziellen Lebensfragen und Wünschen auch zu einem Voodoopriester – etwa dann, wenn eine Frau nicht schwanger wird. Doch gerade Europäern gegenüber wird das nicht gern erwähnt. Die Sorge ist groß, als rückständig zu gelten. Wer sich aber offen dazu bekennt, der fragt gern mit einem Augenzwinkern: Einen Gott mehr zu haben - wo ist denn das Problem?

Victor Adohonannon bedauert, dass er so lange fortgeblieben ist. Aber jetzt sind die Vorbereitungen fertig, und wir könnten zusammen ins Dorf gehen. Seitdem er vor drei Tagen angekommen ist, hat er keine Schuhe mehr getragen. Er spricht gerne darüber, wie wichtig das Barfußlaufen ist. Sehr bewusst setzt er einen Fuß vor den anderen, um jeden Sandkorn zu spüren. Nur so habe er tatsächlich Kontakt zur Erde, aus der alles kommt. „Sie ist überall. Selbst wenn du das Wasser des Meeres wegnimmst, findest du letztendlich die Erde.“ Wenn er seine Schuhe auszieht, dann erweist er ihr somit Respekt und Ehrfurcht.

Im Zentrum des kleinen Dorfes zeigt er schließlich, womit er beschäftigt war. Er hat ein großes Laken mit roten und schwarzen Farbtupfern um einen uralten Baum gespannt. Seit fünfzig Jahren ist er das Heiligtum Kpêtêkpas. Wenn hier am 10. Januar gefeiert wird, dreht sich alles um den Baum, dessen Wurzeln alt und knorrig sind. Sie sehen so aus, als ob der Baum längst abgestorben sein müsste.

„Aufpassen! Zakpata“

Doch jedes Jahr trägt er frische, grüne Blätter. Dieses Zeichen ist für die Bewohner ein Wunder, weshalb dem Baum magische Kräfte zugeschrieben werden. „Und wenn du diese Farben siehst“, Victor Adohonannon deutet auf das Laken, „dann weiß du: Aufpassen! Zakpata“. Zakpata ist der Gott der Erde, der durch den Baum symbolisiert wird: Er wird in Kpêtêkpa verehrt.

Aus der Ferne erklingen Männer- und Frauenstimmen. Kleine Metallglocken läuten. Irgendwann ist die Gruppe zu sehen, zu der etwa zwanzig Personen gehören. Die ersten Einwohner, die zu der Feier gekommen sind, werfen sich in den Sand. Das Gemurmel wird lauter. Als sie schließlich vor dem Baum stehen, ist es intensiv und eindringlich.

Die Zeremonie zu Ehren des Baumes und damit des Gottes Zakpatas hat begonnen. Dah Sonon Houevenon, ein junger Mann, versucht zu erklären: „Sie machen das jetzt mehrere Male. Zwischendurch kehren sie zurück in den Tempel. Zum Schluss werden sie für den Baum tanzen.“

Was sich im Tempel abspielt, bleibt ein Geheimnis

Bis zum Tempel ist es nicht weit. Er leuchtet ebenfalls in den Farben Zakpatas. Doch der Gruppe darf niemand folgen. Was sich im Tempel abspielt, bleibt ein Geheimnis, an dem nur die sogenannten Initiierten teilhaben dürfen – all jene, die ein spezielles Ritual durchlaufen haben. Sie sind in Trance. „Natürlich könnte man sich das auch von außen anschauen“, sagt Victor Adohonannon, der sie offenbar in Trance versetzt hat. Aber das sei natürlich nicht dasselbe. Verstehen würde man nichts.

Ohnehin ist das Begreifen und Verstehen schwierig. Als die Gruppe nach kurzer Zeit wieder herauskommt, singt sie offenbar. Das Läuten der Glocken ist noch eindringlicher geworden. Es klingt wie nach einer Aufforderung. Die langen und bunten Ketten, die die Initiierten tragen, baumeln um ihre Hälse. Die Gesichter sind ernst und regungslos.

Auf die Frage, welche Lieder sie singen, lächelt Dah Sonon Houevenon milde und sagt: „Ich weiß es nicht.“ Dabei ist er in Kpêtêkpa groß geworden und verfolgt diese Zeremonie jedes Jahr. Verstehen kann er die Texte trotzdem nicht. Er versucht wieder zu erklären: „Die Gruppe, die du jetzt siehst. Das sind keine Menschen mehr, das sind Fetische. Wie der Baum. Jetzt singt ein Fetisch für den anderen. Wir Menschen können nicht verstehen, was sie singen.“

Mit der Zeremonie soll der Baum für ein weiteres Jahr seine Kraft bewahren. Und schon ein einziges Blatt würde dem Besitzer selbst Schutz bieten. Nach dem Besuch in Kpêtêkpa kann man ein Blatt als eine Art Talisman im Auto mitführen oder in die Wohnung legen.

Bei größeren Problemen rät Victor Adohonannon jedoch zu einer Übernachtung im Dorf. Wer Sorgen hat, der soll am frühen Morgen aufstehen, seine Brust mit einem weißen Stück Stoff verhüllen, sich neben den Baum setzen und mit ihm darüber sprechen wie mit einem Menschen. „Das Ergebnis wird man sehen, wenn man wieder zu Hause ist.“ Es werde positiv ausfallen, ist sich Adohonannon sicher.

Das Böse kommt zurück

Der Baum ist im Dorf, das weder Strom noch eine Schule hat, bei Weitem nicht der einzige Fetisch. Gleich neben dem Baum liegen ein paar Holzstämme und etwas Metall. Wer nicht weiß, was das bedeutet, hält es für Müll, der achtlos weggeworfen wurde. Victor Adohonannon lächelt milde. Es ist ein Fetisch, der seinen Ort gegen Krieg und feindliche Angriffe schützt. Dabei wird Voodoo selbst gerne als kriegerisch und düster bezeichnet – als Magie, die heraufbeschworen werden kann, etwa bei den kleinen, mit Nadeln durchbohrten Voodoopuppen, die Unheil anrichten sollen.

Als sich die Fetische wieder in den Tempel zurückziehen und ihr Gesang verstummt, zeigt Victor Adohonannon auf die Blätter, die sich sachte bewegen. Es ist angenehm in der Nachmittagshitze. „Schau sie dir an, alles hat zwei Seiten. Auch im Voodoo.“ Jede Macht könne positiv oder negativ genutzt werden. Wer Voodoo tatsächlich benutzen will, um Unheil anzurichten, der sei gewarnt. „Das Böse kommt zurück“, sagt Baba Guevigbe. Er hat sich zu Victor Adohonannon gesellt und mitgehört.

Er möchte ein positives Beispiel geben, wenn er über seine Religion spricht. Nach kurzem Überlegen findet er eins – seine schwangere Frau. „Heute Morgen hat sie mich angerufen und gesagt, dass sie nicht die Kraft hat, unser Kind auf die Welt zu bringen.“ Seine Frau ist in Cotonou, drei Autostunden von Kpêtêkpa entfernt. Trotzdem konnte er helfen. Baba Guevigbe lächelt. „Ich habe Wasser geholt, bin zu meinem Fetisch gegangen und habe ihm das Problem erklärt.“ Keine Stunde habe es gedauert, und der Sohn war auf der Welt. Jetzt strahlt der Vater über das ganze Gesicht. „Weißt du, Voodoo, das ist wie jemand, der auf uns aufpasst und uns leitet.“

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