Schamjahre

Zwischen biologischem Gutachten und Kosmonautenprüfung: Hans-Ulrich Treichel, Caritas Führer und Kathrin Aehnlich erzählen von deutschen Kindheiten in Ost und West  ■ Von Jörg Magenau

Die Kindheit, hat man sie erst einmal hinter sich gebracht, ist ein verlassener Ort voller Ängste und Sehnsüchte. „Ich kann davon träumen, wie ich einmal das Gehen lernte“, schreibt Walter Benjamin in seiner „Berliner Kindheit“, einem der berühmtesten Versuche, frühe Erinnerungen aus der „kühlen Gruft des Einst“ hervorzuholen. „Doch das hilft mir nichts. Nun kann ich gehen, gehen lernen nicht mehr.“ Literatur, die sich dem Thema Kindheit stellt, muß das Kunststück fertigbringen, noch einmal „gehen zu lernen“. Sie muß die Dinge einfach und zusammenhanglos betrachten und die Gebräuche und Regeln, die es damals einzuüben galt, wieder zu einem undurchsichtigen Rätsel machen: strenge, seltsame Welt, mit den mächtigen Portalfiguren Vater und Mutter und den vier Wänden der Familie als unüberschaubarem Horizont.

Wenn die Rückversetzung glückt, werden im rekonstruierten Mikrokosmos des kindlichen Erlebens zugleich die gesellschaftlichen Zwänge in einer Klarheit deutlich, die von keinem Verständnis getrübt ist. Vielleicht ist das ein Grund dafür, daß die wiedervereinigten Deutschen sich verstärkt ihre Kindheiten erzählen. Die gelungensten Beispiele dieses Genres – F.C. Delius' „Der Sonntag, an dem ich Weltmeister wurde“ (1994) und Christoph Heins episodischer Roman „Von allem Anfang an“ (1997) – zeigen, daß Kindheiten in Ost und West trotz aller Differenz der Lebenswelten doch vor allem eben Kindheiten waren: eine Zeit intensivster Eindrücke und Schutzlosigkeit, des Glücks und der Peinlichkeit.

Hans-Ulrich Treichels neue Erzählung „Der Verlorene“ ist Hein und Delius durchaus ebenbürtig. Aus der Perspektive einer ostwestfälischen Kindheit behandelt Treichel, seit einigen Jahren Professor am neugegründeten Literaturinstitut in Leipzig, die mentalen Grundlagen der frühen Bundesrepublik: Vertreibung, Flucht, Vergewaltigung, Verlust, Neuanfang, Schuld, Verdrängung, Wirtschaftswunder. Kein mühsamer Erinnerungsmarathon wird hier vorgeführt, keine Kollektivgeschichte gestemmt. Treichel erzählt bruchlos und spielerisch leicht, schreibt in der Vergangenheitsform und mit dezenter Selbstironie, aber doch unmittelbar aus dem kindlichen Erleben heraus. Der Schlüsselsatz, aus dem sich diese Haltung begreifen läßt, fällt während der Beerdigung des Vaters, der plötzlich an einem Herzinfarkt gestorben ist: „Ich dachte daran, daß ich wohl unter dem Tod des Vaters litt, aber nicht spürte, daß ich litt.“

Das nicht gespürte Leiden ist der Grundton dieser Kindheit am Ende der 50er Jahre. Es ist eine seltsame emotionale Mischung aus geschärfter Sensibilität und wattiger Dumpfheit, die im Gefühl der Scham ihren allgegenwärtigen Ausdruck findet. Kindheit ist ja generell ein schamintensives Alter. Treichels Ich-Erzähler schämt sich seiner Kleidung. Er schämt sich des Essens und der Sonntagsausflüge mit den Eltern in den Teutoburger Wald. Er schämt sich so ausdauernd, daß ihm das Leben als eine einzige Schuld-und-Scham- Prozession erscheint, die auch beim gemeinschaftlichen, noch ungewohnten Fernsehen keineswegs endet: „Wenn wir vor dem Fernseher saßen, schämten wir uns, auch wenn ich nicht weiß, wofür wir uns schämten. Vielleicht war es gar nicht die Intimität im Fernseher, für die wir uns schämten, sondern die Intimität vor dem Fernseher. Vielleicht hatte es auch mit meinem Bruder Arnold zu tun.“

Dieser Bruder ging bei der Flucht der ostpreußischen Eltern vor „dem Russen“ im Januar 1945 verloren. Als das geschah, was die Mutter immer nur „das Schreckliche“ nennt und was der Erzähler nicht ganz ergründen kann, drückte sie ihr Kind, das damals ein Jahr alt war, einem Unbeteiligten in den Arm und fand es später nicht wieder.

Treichels Erzählung basiert auf autobiographischem Material und gibt seinen ebenfalls autobiographischen Erzählungsbänden „Von Leib und Seele“ (1992) – einem Bericht über die Abgründe einer Psychoanalyse – und „Heimatkunde“ (1996) – sogenannten „Besichtigungen“, die von der Geburt in der ostwestfälischen Küche bis in die Berliner Studentenzeit reichen – Anfang und Begründung. Der ein paar Jahre nach dem Krieg geborene Erzähler (Treichel selbst ist Jahrgang 1952) wächst zunächst im Glauben auf, Bruder Arnold, der so unverschämt raumgreifend das Familienalbum dominiert, sei tot. Schon das ist bedrohlich genug, da er selbst immer nur der ist, der vorhanden, also nichts Besonderes, also auch nicht besonders geliebt und im Fotoalbum kaum zu entdecken ist. Doch bald schon erfährt er, daß die Eltern fieberhaft nach ihrem verlorenen Sohn forschen. Das Rote Kreuz meldet ihnen schließlich ein „Findelkind 2307“, das mit dem Verlorenen entfernte Ähnlichkeit aufweist – zumindest hat es einen Haarwirbel an derselben Stelle.

In absurder, nie nachlassender Wiedergutmachungsverbissenheit versuchen die Eltern nun, dessen Identität durch anthropologisch- erbbiologische Gutachten zu beweisen. Die Kindheit, von der Treichel berichtet, wurde von diesen Bemühungen nachhaltig geprägt. Das begann harmlos mit der Abnahme von Blut und Fingerabdrücken, setzte sich fort im schambelasteten Besuch beim örtlichen

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Fotografen, der eine gut ausgeleuchtete Hinterkopfaufnahme erstellte, und gipfelte schließlich in einer mehrtägigen Reise zu einem dubiosen Heidelberger Professor, der, mit Maßbändern und Schraubzwingen bewaffnet, Bauchspeck, Schädelhöcker und Kieferknochenwinkel von Eltern und Sohn traktierte, als seien die Abstammungslehren des Dritten Reiches ungebrochen gültig. Übrigens sollte dieser Ausflug die einzige Reise sein, die die Eltern nach ihrer Flucht jemals unternahmen.

Treichels Ausmessung bundesrepublikanischer Schuld- und Schamverhältnisse ist lakonisch- komisch und voller überraschender Wendungen. Die anschwellenden Wiederholungen lassen als Vorbild Thomas Bernhard erkennen. Der strenge Vater, der sich vom Lebensmittelhändler zum Großhändler hocharbeitet, ehe er am Herzinfarkt stirbt, und die an zunehmendem Kopfzittern leidende Mutter erscheinen als Repräsentanten der Epoche, die ihr Schuldgefühl im Wirtschaftswunder sublimiert.

Nebenbei gibt Treichel eine Psychologie der Lebensmittelhändler und die Diagnose einer berufsbedingten, der Vergänglichkeit von Gemüse geschuldeten Traurigkeit. Er entwirft eine Typologie entscheidungsunfähiger Kunden vor Wurstvitrinen und erklärt Schrecken und Nutzen von Schweinsköpfen. Der Umbau des elterlichen Hauses von einem verwinkelten Kindheitslabyrinth in ein funktionales, übersichtliches Gebäude wird zur Metapher der atemlosen Modernisierung, das Schaufester des Fotografen erscheint als Pranger des Dorfes und Schauplatz der Sterblichkeit. Treichels Erzählung ist voller Kostbarkeiten, präziser und witziger Bilder. So könnte es gewesen sein – ein Blick zurück ohne Zorn.

Die 1957 geborene Caritas Führer tut sich da in ihrer Debüterzählung „Die Montagsangst“ schwerer. Allzu sehr scheint sie noch unter den frühen DDR-Traumata zu leiden, um etwas anderes als Bewältigungsliteratur hervorzubringen. Entdeckt Treichel die Verwerfungen der Epoche in den Strukturen der Familie, so erscheint die Familie bei Führer als Bollwerk gegen die feindliche sozialistische Gesellschaft. Ihre Erzählerin wächst mit fünf Geschwistern in einer Pfarrersfamilie auf, von den Eltern darauf getrimmt, alle Zumutungen der Gesellschaft als gottloses Teufelszeug zurückzuweisen. Ins Kino kommt sie nur mit, wenn es „nichts Politisches“ ist. Den Frauentag muß sie ablehnen, weil er eine sozialistische Errungenschaft ist, und statt dessen den Muttertag kultivieren. Selbst Heinrich Heines „Schlesische Weber“ faßt sie als Gotteslästerung auf.

„Die Montagsangst“ – Montags ist Fahnenappell – beschreibt minutiös die Demütigungen und Bedrohungen, denen eine Außenseiterin ausgesetzt war. Weil sie die Mitgliedschaft bei den Jungen Pionieren verweigerte, verweigert man ihr die Anerkennung. Caritas Führer schildert, wie unter dem Zugriff des Ideologischen auch das Richtige falsch werden kann, wie Antifaschismus zur Masche und zum Disziplinierungsinstrument verkommt. Blind bleibt sie aber gegenüber den Zumutungen der christlichen Eltern, die die Kinder in ihren täglichen Kleinkrieg hineinziehen, ohne ihnen eine Wahl zu lassen: auch eine Form von Kindesmißbrauch. Allen Ernstes und in Solidarität mit dem Vater schreibt Führers kindliche Ich-Erzählerin: „Auch ich bin im Widerstand.“ Mühsam und wie zur postumen Sinngebung wird so ein autonomes Subjekt konstruiert, das seine Position in der Gesellschaft von Anfang an frei wählt. Zwangsläufig endet dieser Versuch im Kitsch und in der Lüge. Während die Lehrerin in der letzten Stunde der 10. Klasse noch einmal darauf hinweist, daß aus der Erzählerin, wäre sie in die FDJ eingetreten, etwas hätte werden können, malt die ein Gitter auf ihr Blatt Papier, darüber ein Vögelchen mit einem Zweig im Schnabel. Der letzte Satz heißt: „Ohne aufzusehen antworte ich, so laut ich kann: Ja, ich gehe genau den Weg, den ich mir selbst gesucht habe.“

Sicher, es mag schwer sein, der Erfahrung einer feindlichen DDR- Gesellschaft mit jener feinsinnigen Ironie zu begegnen, die Hans-Ulrich Treichel gegenüber seiner ostwestfälischen Kindheit aufbietet. Und man könnte es für typisch halten, daß der Westler das Leiden an der Familie thematisiert, die Ostlerin aber das Leiden in der Gesellschaft. Typisch auch, daß Ironie im Westen, Tragik im Osten anzusiedeln wären. Eine andere östliche Debütantin, Kathrin Aehnlich, widerlegt jedoch diesen Eindruck. „Wenn ich groß bin, flieg ich zu den Sternen“, heißt ihre Sammlung schlichter Erzählungen über eine Berliner Kindheit. Auch ihre Familie ist eher christlich als sozialistisch ausgerichtet, aber die Fronten sind weniger starr. Die Titelgeschichte etwa beschreibt die Verbannung der Erzählerin aus der ungeliebten Christenlehre – weil sie den leeren Himmel ihres Hausaufgabenbildes mit einem Sputnik füllte – und ihren darauf folgenden Gang zur begehrten „Kosmonautenprüfung“ bei den Jungen Pionieren: Ein guter Tausch!

Wie bei Treichel geht es auch bei Kathrin Aehnlich um eine kleinbürgerliche Welt voller Scham und Verklemmtheit, in der die Mutter der Tochter den Kopf wegdreht, wenn sich im Freibad ein Liebespaar küßt, und fluchtartig mit ihr den Kinosaal verläßt, wenn sich eine erotische Szene anbahnt. Ulbricht-Muffigkeit unterschied sich kaum von Adenauer- Muffigkeit. Aehnlich berichtet vom ganz normalen Alltag: vom Karussell im Stadtpark, der Idylle eines Sommers und dem mütterlichen Zwang zum Matrosenkleidchen. Von den Düften des verkommenen Hinterhofs, der Nazi-Tante mit ihrer verschmierten Brille und ihrem Alkoholismus und vom strengen Vater, der seinen Beruf des Finanzprüfers auch im eigenen Haushalt unerbittlich ausübte. Ohne dem kindlichen Erleben eine politische Dimension aufzupfropfen, wird doch viel von der DDR kenntlich – etwa wenn die Eltern im Flüsterton über die Welt jenseits der Grenze sprechen. Die Demonstrationen am 1. Mai sind für die Erzählerin vor allem ein faszinierendes ästhetisches Erlebnis, eine Art Volksfest. Und wenn Walter Ulbricht verkündet: „Wir können auch ohne Zwiebeln den Sozialismus erringen!“ – dann tritt dies in ironische Beziehung zu der Szene, in der die Erzählerin – oh Qualen der Pubertät! – ihren noch nicht vorhandenen Busen mit Zwiebeln einreibt, um keine Hühnerbrust zu bekommen.

Als durchgängiges Stilmittel benutzt Katrin Aehnlich kursiv gesetzte Sprach-Versatzstücke – elterliche Sprüche und Ermahnungen, Sentenzen aus Lehrbüchern, Allerweltsweisheiten. So demonstriert sie, wie Sprache und Denken des Kindes unmerklich und unerbittlich durch Ideologeme geformt werden, wie sich Identität in der Gesellschaft erst herstellt. Diese pädagogische Penetranz nervt ein bißchen, zeigt aber auch, daß diese Erzählerin – im Gegensatz zu Caritas Führer – um die Relativität des familiären Standorts in der Gesellschaft weiß. Das Glück und die Mühe des Benjaminschen „gehen lernens“ sind immer wieder neu zu vollziehen.

Hans-Ulrich Treichel: „Der Verlorene“. Suhrkamp Verlag, Frankfurt/Main 1998, 175 Seiten, 32DM

Caritas Führer: „Die Montagsangst“. Kiepenheuer & Witsch, Köln 1998, 90 Seiten, 22DM

Kathrin Aehnlich: „Wenn ich groß bin, flieg ich zu den Sternen“. Gustav Kiepenheuer Verlag, Leipzig 1998, 160 Seiten, 29,90DM