Der Fall des Philosophen

Intellektuellendämmerung? „Die Philosophen werden die öffentliche Meinung regieren“, glaubte Voltaire. Sein Eingreifen in die Affäre Calas bestimmte das Selbstverständnis von Intellektuellen  ■ Von Ingrid Gilcher-Holtey

Der Fall Calas beginnt am 13. Oktober 1761 mit einem mysteriösen Tod: Marc Antoine, 29, der älteste Sohn des hugenottischen Kaufmanns Jean Calas, wird gegen 21.30 Uhr in den Geschäftsräumen des Hauses seiner Familie in Toulouse tot aufgefunden. Die Ermittlungen der städtischen Behörden gehen davon aus, daß Marc-Antoine das Opfer einer protestantischen Verschwörung geworden ist, weil er zum katholischen Glauben übertreten wollte. Des Mordes angeklagt werden alle am Tatort anwesenden Personen. Sie weisen die Anschuldigungen von sich, doch wird ihre Verteidigung durch widersprüchliche Aussagen erschwert. Bestrebt, die Ehre seines Sohnes zu wahren, hat Jean Calas den Selbstmord Marc-Antoines zu verheimlichen versucht.

Noch bevor die Ermittlungen abgeschlossen sind, bemächtigt sich die katholische Kirche des Leichnams von Marc-Antoine. Er wird in einer feierlichen Zeremonie aufgebahrt und zum Märtyrer seines Glaubens erklärt. Unter der katholischen Bevölkerung von Toulouse gibt es nach dieser Zeremonie niemanden mehr, der Zweifel an den kriminellen Vorgängen im Haus von Jean Calas hat. Im Prozeß werden alle Angeklagten für schuldig erklärt. Das Urteil gegen Jean Calas wird am 13. März vollstreckt. Er wird auf das Rad geflochten und zweistündigen Qualen ausgesetzt. Auch nach der Tortur gesteht Calas nicht, sondern bekennt vor Gott seine Unschuld.

Überzeugt, daß seit der Bartholomäusnacht nichts die menschliche Natur derart entehrt habe wie das Urteil des Toulouser Parlaments und die Hinrichtung des unschuldigen Calas, beginnt Voltaire einen Feldzug für die Rehabilitation des Jean Calas. Vier Interventionsstrategien zeichnen Voltaires Kampagne aus. Persönliche Kontakte ausnutzend, versucht er zunächst, Einfluß auf die Entscheidungsträger im Fall Calas zu erlangen, das heißt konkret auf den Conseil d'Etat, der für Wiederaufnahmeverfahren in Strafrechtsprozessen zuständig ist. Er wendet sich deshalb an ihm bekannte und verbundene Mitglieder der Hofkreise sowie Honoratioren in Paris, um sie von der Unschuld Calas und der Fragwürdigkeit des Prozeßverfahrens zu überzeugen. Bestrebt, die Aufmerksamkeit der „repräsentativen“ und „räsonierenden“ Öffentlichkeit auf die Ereignisse in Toulouse zu lenken, läßt er zugleich als kleine Flugblätter Briefe der Witwe Calas und ihrer Söhne erscheinen. Sie sollen Protestanten zeigen, die nicht dem Bild des Dogmatikers entsprechen, wie es die Mehrheit der Franzosen hegt. Alle Briefe sind von Voltaire geschrieben. Ihr Stil ist ergreifend. Indes, so eindringlich Voltaire auch schreibt, die öffentliche Wirkung bleibt gering.

Aus dem Fall Calas wird die Affäre Calas

Die Wahrnehmung der Öffentlichkeit ändert sich erst, als Voltaire in seiner „Histoire de Elisabeth Canning et de Jean Calas“ systematisch die Verfahrensregeln in Strafprozessen zu problematisieren beginnt. Sein Vorstoß wird flankiert durch drei angesehene Advokaten, die den Fall Calas aufgreifen: Ihre juristischen Memoranden stellen ein zentrales Medium zur Herstellung einer „räsonierenden Öffentlichkeit“ dar, die den Fall – strukturiert durch die abstrahierenden Argumente – zu wägen und zu debattieren beginnt. Die Indolenz scheint gebrochen, aus dem Fall Calas ist die Affäre Calas geworden. Um der Problematik der Affäre auch symbolisch inmitten der Hauptstadt Ausdruck zu verleihen, läßt Voltaire – so seine dritte Interventionsstrategie – die Witwe des Hingerichteten im Juni 1762 nach Paris reisen. Er präsentiert sie einer ausgewählten Pariser Öffentlichkeit, um Druck auf die Richter auszuüben, die über die Revision und das Rehabilitationsgesuch entscheiden. Die erste Entscheidung auf dem Weg zur Rehabilitation des Jean Calas fällt am 7. März 1763. Der Conseil d'Etat beschließt ein Wiederaufnahmeverfahren und fordert zu diesem Zweck vom Toulouser Parlament die Prozeßunterlagen an. Damit sind die Weichen gestellt, indes entschieden ist der Kampf noch nicht. Das Toulouser Parlament weigert sich, die Unterlagen herauszugeben, und bietet lediglich die Möglichkeit einer Abschrift an. Das kostet Zeit und Geld. Voltaire gerät außer sich, doch er übernimmt die Kopierkosten, um seine Sache weiterzuführen. Während die Prozeßakten abgeschrieben werden, veröffentlicht er „Le Traité sur la tolérance“.

Diese Schrift markiert den Höhepunkt der Kampagne Voltaires und seine vierte Interventionsstrategie: die Konstruktion und Verteidigung „der heiligsten Rechte der Menschheit“, die Toleranz. Die Schrift entfaltet das „ideelle Interesse“, das Voltaire mit seiner Kampagne verfolgt, das universelle Prinzip, das in Toulouse verletzt worden ist und das es zu restituieren gilt. Ausgehend vom Fall Calas, der durch „den Geist der Intoleranz“ entstanden sei, definiert Voltaire das Prinzip der Toleranz als allgemeinen Grundwert „menschlicher Gemeinschaften“. Die Entscheidung fällt am 9. März 1765. Auf den Tag genau drei Jahre nach seiner Verurteilung wird Jean Calas rehabilitiert. Voltaire ist euphorisch. Er schreibt: „...die öffentliche Meinung regiert die Welt, und die Philosophen werden zukünftig die öffentliche Meinung regieren“. Am Beispiel von Voltaires Engagement lassen sich zentrale Elemente der Rolle des Intellektuellen bestimmen.

Erste These: Im Zentrum des intellektuellen Engagements steht die Entfaltung eines generellen Problems aus diffusen Ereigniszusammenhängen und divergierenden Interessenlagen. Der Intellektuelle konstruiert und isoliert – und darin besteht seine eigentliche „Leistung“ – ein „ideelles Interesse“, welches die komplexen Geschehenszusammenhänge und Interessenkonflikte erhellt und zugleich durchbricht. Aus dem Einzelfall wird ein prinzipieller Fall. Das Fehlurteil und das Unrecht, das Calas widerfuhr, wird zum Ausgangspunkt einer Problematisierung der Verfahrensregeln in Strafprozessen sowie der Infamie der Kirche und führt zu einer Debatte, die Prinzipien mit Anspruch auf allgemeine Gültigkeit hervortreten läßt: Gerechtigkeit und Toleranz. Zwar geht es Voltaire auch um die Rehabilitierung der Familie Calas, aber sie ist nur die sinnlich wahrnehmbare Konkretion der Prinzipien, die er vertritt.

Zweite These: Voraussetzung für die Mobilisierungswirkung von Intellektuellen ist der Transfer des generalisierten Falles in andere Arenen der Wahrnehmung und der Entscheidung. Die Aufgabe des Intellektuellen besteht dabei darin, einen Adressaten zu finden, der in seinem Sinne bei der weiteren Behandlung und Lösung des definierten Problems tätig werden kann. Findet er ihn nicht, bleibt das intellektuelle Engagement wirkungslos. Denn ein zentrales Kriterium des Intellektuellen ist, daß er selbst die von ihm erstrebte Änderung der Situation nicht herbeiführen, im konkreten Fall kein neues Urteil mit allgemeiner Geltung durchsetzen kann. Er ist mithin abhängig von anderen: zum einen von Entscheidungsinstanzen und zum anderen von „Vermittlern“, die Einfluß auf die Träger der Entscheidungsinstanzen auszuüben vermögen. Voltaire fand einen Adressaten: den Conseil d'Etat, der ein Revisionsverfahren im Fall Calas einleiten und durchführen konnte, und er fand „Vermittler“ (in Versailler Hofkreisen sowie unter Pariser Honoratioren), die indirekt auf das Entscheidungsgremium Einfluß nehmen konnten. Die fehlende Entscheidungskompetenz der Intellektuellen entspricht der Distanz, die ein Engagement ohne direkte Betroffenheit und unter ausschließlicher Bezugnahme auf die von ihm in Anspruch genommenen „ideellen Interessen“ und allgemeinen Prinzipien erst möglich macht.

Dritte These: Erfolgreiche Mobilisierung durch Intellektuelle ist an die Verknüpfung von Primär- und Sekundärmobilisierung gebunden. Der Einsatz persönlicher Netzwerke ist nicht hinreichend, um die Revision des Urteils im Fall Calas herbeizuführen. Selbst Voltaire, dessen Briefe Leser fanden, die weit über den Empfängerkreis hinausgingen, hätte allein gestützt auf seine Korrespondenz- und Ansprechpartner keinen hinreichenden Druck auf die Entscheidungsinstanzen ausüben können, um im Fall Calas eine Änderung der Wahrnehmung und des Urteils herbeizuführen. Ohne die Herstellung von Öffentlichkeit – sei es durch veröffentlichte Briefe, sei es durch Memoranden, anonyme Schriften wie „Le Traité sur la tolérance“ oder Flugschriften – hätte er seine Rolle als Intellektueller nicht ausüben können. Die Herstellung von Öffentlichkeit und die Mobilisierung eines anonymen Publikums durch sie sind notwendige Elemente einer von Intellektuellen getragenen Aufklärungskampagne. Über die Publikationen wurden in der Affäre Calas die „gens de lettres“ und das aufklärerisch gesonnene Publikum (bestehend aus Bürgerlichen und Adeligen) angesprochen, das als Trägergruppe eine „öffentliche Meinung“ entstehen läßt, die indirekten Druck auf die Entscheidungsinstanzen ausübte. Voltaires Kampagne für Calas trug entscheidend zur Konstituierung eines für alle sichtbaren „Tribunals der öffentlichen Meinung“ bei, das reflektierten Kriterien folgte.

Vierte These: Die Vermittlungs- und Wirkungschance intellektuellen Engagements ist besonders hoch, wenn es gelingt, eine Verknüpfung von universellen Werten und konkreten Zielen und Maßnahmen herbeizuführen. Voltaires Interventionen im Fall Calas bieten verschiedene Kriterien für eine Urteilsbildung. Sie reichen von der Hervorhebung der Verfahrensmängel, über die Problematisierung des Prozeßverfahrens in Strafrechtsfällen allgemein, zur Kritik der Vorurteilsbildung unter Berufung auf das prinzipielle Moralgebot der Toleranz im christlichen Sinne bis zum universellen Postulat der Toleranz als Menschenrecht.

Ein Muster kollektiver Meinungsbildung

Diese Kriterien ermöglichen unterschiedliche Parteinahmen für Calas auf verschiedenen Ebenen, ohne daß damit jeweils schon grundsätzliche Zustimmung zum universalisierten „letzten“ Wert eingeschlossen ist. Der Intellektuelle Voltaire schafft somit ein Kontinuum von Urteilskriterien mit divergierenden Abstraktionsgraden und Zielorientierungen. Das breite Spektrum der (Reform-)Ziele erhöht die Zustimmungsbereitschaft und den Kreis der potentiellen Unterstützer seiner Kampagne.

Gelingt es, durch Akzentuierung und Dramatisierung von Wertprinzipien und durch das Medium der öffentlichen Meinung Druck auf Entscheidungsinstanzen auszuüben, so daß diese veranlaßt werden, zu urteilen und zu reagieren, dann erlangen Wertprinzipien eine Gültigkeit, die ein Intellektueller oder auch eine Gruppe von Intellektuellen niemals verbindlich durchsetzen kann. Gegenüber den Institutionen der Gesellschaft ist die Rolle des Intellektuellen jedoch ebenso transitorisch, wie es die Herstellung einer politischen Öffentlichkeit ist. Für die Aktivierung der Rolle des Intellektuellen bedarf es individueller Entschlüsse, für die Herstellung einer politischen Öffentlichkeit kollektiver Meinungsbildung. Voltaires Intervention in die Affäre Calas zeigt die Struktur dieser Zusammenhänge in der Mitte des 18. Jahrhunderts. Im geschichtlichen Verlauf ändern sich die Kontexte und die verfügbaren Mittel zur Konstituierung einer politischen Öffentlichkeit. Auch verändern sich die Wertprinzipien und Institutionenordnungen. Die Struktur der Mobilisierungschancen bleibt jedoch gleichartig, und so wurde Voltaires Eingreifen in den Fall Calas zu einem die Geschichte überdauernden Modell für die Rolle des Intellektuellen.