Medizinethiker über Sterbehilfe: „Vertrauenswürdige Ansprechpartner“

Könnte man Ärzten noch vertrauen, wenn sie auf Verlangen töten dürften? Der Medizinethiker Urban Wiesing plädiert unter bestimmten Voraussetzungen dafür.

„Wie ich sterben möchte, das zu bewerten steht dem Staat nicht zu.“ Bild: dpa

taz: Herr Wiesing, ist es ethisch in Ordnung, wenn ein Arzt seinem Patienten hilft, sich zu töten?

Urban Wiesing: Unter bestimmten Bedingungen ja.

Manche Politiker sehen das anders. Ärzte, sagen sie, sollten heilen, lindern, trösten – und nicht helfen, Leben zu beenden. Es drohe sonst ein Vertrauensverlust.

Diese Prognose wird durch ständiges Wiederholen nicht richtig.

Woher wissen Sie das?

Durch wissenschaftliche Untersuchungen. Der Supreme Court im kanadischen British Columbia hat hierzu alle Untersuchungen zusammengetragen. Er kommt zu dem Ergebnis, dass es beim ärztlich assistierten Suizid schwierige Fälle, auch Gefahren gibt, die sich durch kluge Regelungen jedoch abwenden lassen.

Aber eben keinen Beweis dafür, dass die Funktionalität der Medizin gefährdet wäre. Vielmehr gibt es Anzeichen dafür, dass das Vertrauen in die Ärzteschaft wächst, wenn die Patienten wissen, dass sie in einer sehr schwierigen Situation einen seriösen Ansprechpartner haben.

Gegenargument: Wenn man Ärzten diese Möglichkeit gibt, werden sie zu den gefährlichsten Männern im Staate.

55, ist Direktor des Instituts für Ethik und Geschichte der Medizin an der Universität Tübingen. Seit 2009 ist er Mitglied des Medical Ethics Committee des Weltärztebunds, wo er zuletzt die Revision der Deklaration von Helsinki vorantrieb. 2011 wurde er zum Mitglied der Nationalen Akademie der Wissenschaften Leopoldina ernannt. 2004 bis 2013 war er Vorsitzender der Zentralen Ethikkommission bei der Bundesärztekammer.

Es gibt es keinen wissenschaftlichen Beleg dafür, dass es zum Dammbruch kommt. Im Gegenteil: Wir wissen aus den US-Bundesstaaten Oregon und Washington, dass das Hinzuziehen von Ärzten dort nachweislich dazu geführt hat, dass ein Großteil der Suizidwünsche gar nicht praktiziert wird.

Nur 20 bis 30 Prozent derjenigen, die den Suizid ursprünglich wollten, praktizieren ihn nach der Konsultation eines Arztes. Unter dem Aspekt des Lebensschutzes scheint es geboten zu sein, die Assistenz zum Suizid in die Hände von Ärzten zu geben.

Ärzte statt Dignitas – ist das Ihr Vorschlag?

Ja. Die Ärzte sollten sich dessen annehmen, sie sollten die Pluralität der Vorstellungen ihrer Patienten in Bezug auf das Lebensende akzeptieren und angemessen auf diese Pluralität reagieren.

Was heißt das?

Die Bürger sind über die Hilfe beim Suizid uneins. Zwei Drittel wollen diese Hilfe für bestimmte Situationen, andere lehnen sie ab. Wie muss die Ärzteschaft darauf reagieren? Indem sie die Hilfe kategorisch ablehnt? Dann nimmt sie zwei Drittel der Menschen nicht ernst.

Oder, und das wäre mein Vorschlag: die Ärzte können nur angemessen darauf reagieren, indem sie für Patienten, die in einer aussichtslosen, medizinisch nicht verbesserbaren Situation ernsthaft um Hilfe bitten, als vertrauenswürdiger Ansprechpartner zur Verfügung stehen. Sie können Patienten auch davon abbringen, Suizidformen zu wählen, die Dritte gefährden, ich denke an Verkehrsteilnehmer und Lokführer.

Wie kann ein Arzt überprüfen, dass der Patient aus eigenem Willen zu der Entscheidung gelangt ist, sterben zu wollen?

Wer sollte es besser können als der Hausarzt, der ein Vertrauensverhältnis zum Patienten hat und sein Umfeld kennt? Zusätzlich müsste ein Gutachten von einem weiteren, externen Arzt bestätigen, dass es sich um den authentischen, stabilen Patientenwillen handelt.

Sämtliche Optionen für Palliativmedizin müssten ausgeschöpft sein. Und es müsste ausgeschlossen sein, dass eine behandelbare Depression vorliegt. Wenn diese Vorsichtsmaßnahmen erfüllt sind, denke ich, sind Patienten bei Ärzten besser aufgehoben als bei zweifelhaften Organisationen.

Weil Sterbehilfeorganisationen Geld machen mit dem Leid Schwerstkranker?

Auch das, manche Preise sind schlicht Wucher.

Manche Ärzte möchten lieber Palliativmedizin anbieten als Beihilfe zum Suizid.

Es macht keinen Sinn, Palliativmedizin gegen Sterbehilfe auszuspielen. Selbst die Palliativmediziner geben inzwischen zu, dass es bei bester Palliativmedizin Situationen gibt, in denen das Sterben für die Patienten unerträglich wird. Diese Fälle müssen wir regeln.

Eine Regelung des ärztlich assistierten Suizids sollte mit einem Forschungs- und Entwicklungsprogramm der Palliativmedizin einhergehen. Wir sollten fragen, wo es Verbesserungsbedarf gibt. Überdies besitzen wir keine Zahlen zum ärztlich assistierten Suizid. Das sollte sich ändern.

Beihilfe zum Suizid setzt voraus, dass die Tatherrschaft beim Patienten bleibt. Angenommen, ein Patient ist bei klarem Verstand, aber gelähmt. Das Medikament, das Sie ihm freundlicherweise überlassen, kann er nicht selbst schlucken. Helfen Sie ihm trotzdem?

Das wäre Tötung auf Verlangen und ist in Deutschland verboten. Die modernen Geräte, die das Gift applizieren, lassen sich aber sogar über Augenblinzeln oder Mundbewegungen in Gang setzen. Damit bleibt die Tatherrschaft eindeutig beim Patienten.

Sie schalten eine Maschine dazwischen und sagen, der Arzt hat gar nichts zu tun damit. Wie scheinheilig ist das denn?

Auch bei dieser Maschine bleibt die Täterschaft beim Patienten, und darum geht es. Wir würden andernfalls eine Grenze überschreiten, die wir im Augenblick politisch nicht überschreiten können und sollten, weil sie überhaupt nicht zur Debatte steht.

Na schön, dann für den rein theoretischen Fall, dass die moderne Technik versagt: Kann aktive Sterbehilfe ethisch geboten sein?

Sie kann geboten sein. Aber es ist unrealistisch, dass sie absehbar auf der politischen Agenda der Bundesrepublik steht.

Warum gibt es in Deutschland keine offene politische Diskussion um aktive Sterbehilfe wie etwa in den Niederlanden oder Belgien?

Politische Diskussionen sind immer vor historischem Hintergrund zu betrachten. Und in Deutschland haben wir historisch eine große Scheu. Machen wir uns aber nichts vor: Die Tötung auf Verlangen steht in allen modernen Industriegesellschaften früher oder später auf der Agenda. Aber wir müssen jetzt nicht alle Probleme der Zukunft lösen.

Wann könnte die Tötung auf Verlangen denn in ferner Zukunft moralisch zu billigen sein?

Die Entwicklung zur Individualität und Pluralität dürfte in den modernen Gesellschaften voranschreiten. Und dann stellt sich in der Tat die Frage, ob es nicht eine Anmaßung des Staates ist, eine wohlüberlegte, individuelle Entscheidung wie das Sterben zu bewerten und zu beschränken. Es gibt viele Dinge, für die ich diesen Staat schätze. Aber wie ich sterben möchte, mit Verlaub, das zu bewerten steht ihm nicht zu.

Der Staat scheint anderer Meinung zu sein – sonst würde die Debatte nicht so hitzig geführt, oder?

Man muss genau unterscheiden: Der Staat hat sich zu den Fragen, wie Menschen wohlüberlegt sterben wollen, nicht zu äußern. Er hat jedoch für Bedingungen zu sorgen, dass dies ohne Missbrauch und ohne Bedrängung geschieht, dass voreilige, affektiv überlagerte Entscheidungen vermieden werden. Den unterschiedlichen Einstellungen der Bürger zu Tod und Sterben hingegen hat er mit Neutralität zu begegnen. Wir leben nicht in einem Gottesstaat.

Einige Politiker befürchten, dass einmal gelockerte Regelungen weitere Lockerungen nach sich ziehen. In Belgien etwa wurde gerade die aktive Sterbehilfe auf Minderjährige ausgedehnt. Eine Gefahr?

Dieses Argument mahnt zur Vorsicht, reicht aber nicht für ein kategorisches Verbot. Denn ob der nächste Schritt wirklich kommt, ist eine Prognose. In der Schweiz zum Beispiel wird aktive Sterbehilfe für Kinder nicht diskutiert, in Oregon und Washington auch nicht.

Und selbst wenn die Prognose eintritt, braucht sie einen Bewertungsmaßstab. Wenn ich es dann als gut bewerte, auch bei Jugendlichen über Assistenz beim Suizid nachzudenken, dann ist das Resultat des zweiten prognostizierten Schrittes ein moralisch wünschenswertes.

Können Kinder überblicken, was es heißt, den Zeitpunkt ihres eigenen Todes zu bestimmen?

Wir kennen Jugendliche mit chronischen Erkrankungen, die sehr genau um sich wissen und durchaus ihren Tod gestalten können. Wir wissen es sicher ab 14 Jahren, dass Jugendliche die Tragweite und Bedeutung ihres Handelns verstehen können. In anderen Bereichen gestehen wir Jugendlichen dieses Alters auch Selbstbestimmung zu. Mädchen können heute mit 14 oder 15 Jahren die Pille vom Frauenarzt bekommen, ohne dass die Eltern informiert sein müssen.

Sie sehen da keinen Unterschied zwischen sexueller Selbstbestimmung und Fragen von Leben und Tod?

Frau Haarhoff, bitte! Ich sage, dass die starre Grenze von 18 Jahren der Vielfalt der Entwicklungen des Menschen nicht gerecht wird. Insofern glaube ich, dass es richtig war in Belgien, dies zu thematisieren. Bedenken habe ich allerdings bei der Ausweitung auf Kinder unter 14 Jahren.

Warum?

Die Urintention aller Liberalisierung von Sterbehilfe ist die Autonomie des Patienten. Indem wir aber Sterbehilfe auf kleine Kinder ausweiten, die noch gar nicht über sich selbst bestimmen können, geraten wir in ein anderes Paradigma: Wann gebe ich dem Kind die Erlösungsspritze? Wer das möchte, der soll das auch so sagen. Ich möchte das nicht.

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