Technikfolgenabschätzung öffnet sich: Bürgerwissen wurde lange ignoriert

Das Büro für Technikfolgenabschätzung des Bundestags hat sich neu aufgestellt. Künftig soll gesellschaftliches Wissen fürs Parlament nutzbar gemacht werden.

Das Büro für Technikfolgenabschätzung muss sich auch mit den von neuen Organismen ausgehenden Gefahren beschäftigen. Bild: imago/wolterfoto

BERLIN taz | Alle Abgeordneten des Bundestages, auch die Forschungspolitiker unter ihnen, stehen unter einem Dauerfeuer der Beeinflussung. „Wir werden zugeworfen mit Expertisen von allen möglichen Akteuren“, stöhnt ein Mitglied des Forschungsausschusses. Um die richtige Orientierung bei großen Entscheidungen zur Wissenschaftspolitik nicht zu verlieren, leistet sich das Parlamentsgremium seit mehr als 20 Jahren eine eigene Beratungsinstanz: das Büro für Technikfolgenabschätzung beim Deutschen Bundestag (TAB). In diesen Wochen hat das TAB in neuer Zusammensetzung seine Arbeit für die nächsten fünf Jahre aufgenommen.

Das TAB besteht aus Wissenschaftlern, die auf Anforderung der Politik bestimmte Fragen zur Technikentwicklung beantworten. „Wir wollen mit unserer wissenschaftlichen Politikberatung auch dazu beitragen“, erklärt TAB-Leiter Professor Armin Grunwald vom Karlsruher Institut für Technologie (KIT), aus der Vielfalt der Studien für die politischen Entscheider „Ordnung zu schaffen“. Pro Jahr stehen dem Büro dafür zwei Millionen Euro seitens des Bundestags zur Verfügung.

Seit Gründung des TAB 1990 wurden rund 170 Studien zu neuen Technologien und ihren Folgewirkungen für Wirtschaft und Gesellschaft produziert, unter anderem zur Nanotechnik, elektronischen Petitionen und Welternährung. Eine Expertise zu Plänen für ein deutsches Spaceshuttle führte in den 90er Jahren dazu, dass sich Deutschland aus dieser von Eugen Sänger entwickelten Technik verabschiedete.

Große Aufmerksamkeit fand eine TAB-Studie zu den Folgen eines großflächigen Stromausfalls. Aktuell haben die TAB-Experten Themen wie „Climate Engineering“, künftige Postdienste oder Medikamentenentwicklung für Afrika in der Bearbeitung. Unter dem Titel „Synthetische Biologie“ wird untersucht, wie die nächste Stufe der Biotechnologie aussehen kann.

Bürgerbeteiligung stärken

TAB-Mitarbeiter Arnold Sauter betrachtet dabei auch gesellschaftliche Entwicklungen, die in diese Technik hineinspielen können. Dazu gehören etwa die wachsende Do-it-yourself-Bewegung mit individuellem „Bio-Hacking“ außerhalb der Wissenschaft wie auch die Trends zu nachhaltigem Design, Open Innovation und „Sharing Economy“. Im Blick hat Sauter auch die Verbindung von Synthetischer Biologie mit mehr Bürgerbeteiligung an Wissenschaft und Forschung („Citizen Science“).

Am Thema Partizipation hat die Politik bei allen Fragen der Technik-Entwicklung nach dem Stuttgart-21-Schock derzeit gesteigertes Interesse.

„Es wird eine stärkere Öffnung gegenüber der Gesellschaft angestrebt“, erklärt Grunwald. Das drückt sich auch in der neuen Zusammensetzung des TAB aus. Neben Grunwalds KIT-Institut für Technikfolgenabschätzung und Systemanalyse (ITAS), das seit Anfang dabei ist, sind mit der neuen Ausschreibung das Institut für Zukunftsstudien und Technologiebewertung (IZT), die VDI/VDE Innovation und Technik GmbH, beide Berlin, und das Helmholtz-Umweltforschungszentrum (UFZ) in Leipzig dazugekommen.

Neue Methode: „Horizon Scanning“

Während das UFZ die Themen mit Nachhaltigkeitsbezug bearbeiten soll, werden die Experten von VDI/VDE vor allem eine Methode entwickeln, mit der sich frühzeitig bestimmte Technologieentwicklungen erfassen lassen, die heute erst ganz schwach am Zukunftshorizont erkennbar sind: das „Horizon Scanning“. Als Beispiel für einen solchen Trend, der binnen Kurzem zu größerer Wirkung gelangen kann, führt Grunwald die Lebensmittelverschwendung an.

Den ersten gesellschaftlichen Protesten folgten wissenschaftliche Erhebungen zur Situation, die jetzt in technische Lösungen und Veränderungen im Verbraucherverhalten münden. In England und Singapur wird das Horizon Scanning von der Regierung seit mehreren Jahren genutzt. Erste Anwendung der Suchtechnik ist für das TAB-Büro das IT-Thema „Offene Innovationsprozesse als Cloud Service“.

Eine ähnliche Sondierung von Zukunftstrends in die Gesellschaft hinein will das IZT beisteuern. „Das gesamte Feld der Technikfolgenabschätzung ist in Deutschland nicht angemessen repräsentiert“, stellt IZT-Leiter Professor Michael Opielka fest. Sein Institut überzeugte mit dem Vorschlag eines „Stakeholder-Panels“, mit dem regelmäßig bestimmte gesellschaftliche Gruppen zu einzelnen TAB-Themen befragt werden, wie etwa zu Online-Bürgerbeteiligung, Synthetischer Biologie oder Energiewende. Die sieben Stakeholder-Gruppen sind Wissenschaft, Bürger/Verbraucher, Politik/Administration, Wirtschaft, zivilgesellschaftliche Organisationen, Umwelt, Medien/Presse.

Megatrend: Partizipation

„Das spezifische Wissen der gesellschaftlichen Stakeholder soll für die Arbeiten des Bundestages nutzbar gemacht werden“, erklärt Opielka. Dabei gehe es sowohl um die „Erfassung von Chancen und Risiken der gesellschaftlichen Technisierung- und Transformationsprozesse“ als auch um die Ermittlung „innovativer Handlungsmöglichkeiten“. Partizipation ist der Megatrend.

Der neu zusammengesetzte Bundestagsausschuss für Bildung, Forschung und Technikfolgenabschätzung hat im März die Vertreter des TAB-Konsortiums mit Interesse angehört. „Wir sind unglaublich gespannt darauf, was diese neuen Instrumente an Ergebnissen bringen“, sagte die Ausschussvorsitzende, die CDU-Abgeordnete Patricia Lips, gegenüber der taz.

Das Parlament sei sehr daran interessiert, „den Austausch mit den gesellschaftlichen Akteuren zu verstärken“. Methoden wie das Horizon Scanning sollten nicht dazu dienen, von politischer Seite neue Themen zu kreieren, sondern zu ermitteln, „was kommt von der gesellschaftlichen Seite auf uns zu“. Derzeit seien die anderen Ausschüsse des Bundestages dabei, ihre Themenwünsche an das TAB-Büro zu formulieren.

Gesellschaftliches Wissen

Wissenschaftliches und künftig auch gesellschaftliches Wissen dem höchsten deutschen Parlament nutzbar zu machen, ist die Aufgabe des TAB, die es über Legislaturperioden und Regierungswechsel hinaus kontinuierlich und offenbar brauchbar erfüllt. Bei anderen Ansätzen, Wissen ins Parlament zu speisen, ist das nicht so.

Ähnlich wie das TAB hat sich in der letzten Parlamentsperiode die Enquete-Kommission für Wachstum, Wohlstand. Lebensqualität mit wissenschaftlichem Beistand um die gleichen Fragen künftiger Technik und gesellschaftlicher Nutzung gekümmert. Was wird aus diesem Wissen?

TAB-Chef Grunwald muss zugeben: „Der Bundestag hat kein institutionelles Gedächtnis.“ Wenn mit Neuwahlen die Zugpferde wechseln, komme Erfahrung und Wissen abhanden. Grunwald: „Dieser Verlust ist dem System geschuldet.“

Einmal zahlen
.

Fehler auf taz.de entdeckt?

Wir freuen uns über eine Mail an fehlerhinweis@taz.de!

Inhaltliches Feedback?

Gerne als Leser*innenkommentar unter dem Text auf taz.de oder über das Kontaktformular.

Bitte registrieren Sie sich und halten Sie sich an unsere Netiquette.

Haben Sie Probleme beim Kommentieren oder Registrieren?

Dann mailen Sie uns bitte an kommune@taz.de.