Einstieg in die Blue Economy: Die Chancen einer Plastiktüte

Innovation und Kreislaufwirtschaft: Plastik aus Bioabfällen. Das könnte die chemische Industrie wieder regionalisieren und Arbeitsplätze schaffen.

Plastikteilchen in der Donau: teils mehr als Fischlarven, so die Uni Wien. Bild: dpa

Europa muss nach Gelegenheiten suchen, Industrie und Landwirtschaft wieder zu verbinden. Und damit Zukunftsindustrien schaffen – nicht mit Raubbau, sondern mit den vorhandenen Ressourcen. Die derzeitige Überkapazität in der Chemieindustrie (vor allem durch Investitionen in China) und die enormen Kosten des importierten Öls gefährden nämlich die traditionelle Führungsrolle der ölbasierten chemischen Industrie.

Ausgerechnet die verschwenderische Verteilung von 100 Milliarden Plastiktüten jährlich in der EU bietet hier eine einzigartige Gelegenheit. Sie kann die Bühne bilden für die Reindustrialisierung des Kontinents. Eines Kontinents, der seine Rolle in der Weltwirtschaft überdenken muss. Und kann dabei das tägliche Leben verbessern. Sie öffnet die Tür für ein neues Geschäftsmodell, das Wettbewerbsfähigkeit und Arbeit fördert jenseits der derzeitigen, wenig nachhaltigen Logik; jenseits der derzeitigen Ziele.

Die Wertschöpfungskette einer simplen Tüte könnte weitaus eindrucksvoller sein als derzeit. Nämlich wenn es die Wertschöpfungskette von Bioplastik wäre. Schon der Ersatz von 1.000 Tonnen Kunststoff aus ölbasierten Polymer-Verbindungen durch Polymere auf Basis von nachwachsenden, lokalen Rohstoffen bedeutet die Schaffung von 60 Arbeitsplätzen.

Die Landwirtschaft liefert dafür das Rohmaterial entweder aus ihren Abfällen (etwa Stroh) oder Massenkulturen wie Kartoffeln oder Mais. Oder aus Gräsern, die bisher stillgelegte Flächen aus den Subventionsschemata der EU besiedeln. Das bringt ein Viertel dieser 60 Arbeitsplätze. Die Produktion der Kunststoffe bringt ein weiteres Viertel, und die Umwandlung in Gebrauchsgüter spiegelt etwa 15 Prozent dieser 60 Jobs pro 1.000 Tonnen wider.

Kompostieren ist immens strategisch

Ganze 35 Prozent der Jobs schafft ausgerechnet eine „grüne“ Tätigkeit, die lange als wenig wertschöpfend angesehen wurde: das Kompostieren. Kompostieren ist ein immens strategischer Prozess. Europa schickt Millionen Tonnen Bioabfall in Müllkippen oder Verbrennungsanlagen. Das entzieht dem Land wertvolle Nährstoffe, die wir dringend bräuchten, um die obere Bodenschicht wieder aufzufrischen. Denn ohne diese Nährstoffe wird der heutige Ackerbau früher oder später zu einem unerfreulichen Ende kommen; Düngemittel allein können das vielfältige Bodenleben unter unseren Füßen nicht ersetzen. Die fortschreitende Verstädterung muss Hand in Hand gehen mit dem verstärkten Kompostieren von organischem Abfall. Und der Kompost dann auf die Äcker ausgebracht werden.

20 Minuten wird eine dünne Plastiktüte im Schnitt benutzt. 8 Milliarden Tüten landen jährlich EU-weit in der Natur, 8 Prozent des Gesamtverbrauchs. An den nicht abbaubaren Säcken gehen nicht nur Millionen Meerestiere und Vögel im Jahr zugrunde. Die zu winzigen Bruchstücken zerfallenen Dinger landen am Schluss über die Nahrungskette auf unserem Teller.

Das EU-Parlament entschied Mitte April, innerhalb von fünf Jahren die dünnen Plastiktüten um 80 Prozent zu reduzieren. Die Initiative bleibt jedoch den Mitgliedsländern überlassen. Und endgültig entscheidet erst der Rat der Länderminister im Herbst.

Eine Protestaktion im Netz, von der Organisation Rettet den Regenwald, fordert ein schnelles Verbot der Plastiktüten. Knapp 130.000 haben unterzeichnet.

Die Europäische Union beschäftigt sich gerade mit ihren 100 Milliarden Plastiktüten, etwa 200 pro Einwohner und Jahr, gefertigt aus kostbarem fossilen Polyethylen. Doch wir sehen noch nicht die dramatische Auswirkung, die der Ersatz einer einfachen Tasche auf die Gesellschaft haben kann. Natürlich zeigen Umweltschützer zu Recht auf die Schildkröte, die durch Plastikreste im Mittelmeer stranguliert wird. Doch als Unternehmer und als Bürger sollten wir auch auf die unglaubliche Gelegenheit zeigen, die europäische Marktführerschaft in der Chemieindustrie in einen Vorsprung bei der viel moderneren Biochemie zu verwandeln.

Janez Potocnik, der EU-Kommissar für Umwelt, betont immer wieder, dass jedes Mitgliedsland selbst entscheiden kann, wie es die ölbasierten Plastiktüten reguliert und schließlich eliminiert. Ich würde das anders formulieren: Die Kommission kann eine faire Ausgangsbasis für alle schaffen, welche es jedem Land ermöglicht, sich eine glänzende Zukunft für seine Chemieindustrie vorzustellen; die seine Landwirtschaft, Energie und überhaupt die Transformationsbranche hin zu einer in Kreisläufen wirtschaftenden Blue Economy stärkt. Und dabei den Import eines teuren Produkts – des Öls – überflüssig macht.

Italien geht voran

Eine vor Ort produzierte Tüte schiebt neue Branchen an, lässt mehr Geld in der regionalen Wirtschaft kreisen und schafft dringend benötigte Arbeitsplätze – dank des Mehrwertes einer Industrie mit einem landwirtschaftlichen Produkt in seinem Innersten.

Das italienische Gesetz zum Ersatz der Plastiktüten aus fossilen Rohstoffen, unterstützt übrigens von 94 Prozent der Bevölkerung, steuert die Gesellschaft hin zu einer „bio-basierten“ Wirtschaft. Gleichzeitig hat es der Gesellschaft die Kompostierung und die Biotaschen nahegebracht wie in keinem anderen EU-Land. Italien hat die fossilen Taschen mit einer Umweltsteuer belegt und so diejenigen aus Bioplastik konkurrenzfähig werden lassen.

Bereits sieben ehemals veraltete petrochemische Fabriken sind umgewandelt im Land. Sie stellen nicht nur Tüten her, sondern auch Polymere für Schmiermittel oder Elastomere. Insgesamt geht es dort um 200 Millionen Umsatz und 350 Arbeitsplätze. Ende des Jahres soll zusammen mit dem Energiekonzern ENI die Anlage Porto Torres auf Sardinien hinzukommen. Mit weiteren 850 Arbeitsplätzen. Das bedeutet auch eine Renaissance der Kunststoffindustrie wie in keinem anderen Industrieland.

1.000 Patente stärken diese Umwandlung und zeigen, dass es eine Zukunft gibt für innovative und wissensbasierte Industrie. Auch in Europa. Verbraucher und Natur profitieren uneingeschränkt von dieser Transition. Sie erhält und schafft Jobs, wie es noch vor Kurzem kaum vorstellbar war.

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