■ Morgen erhält Uri Avnery den Aachener Friedenspreis. Geehrt wird sein Engagement für Verständigung zwischen Israelis und Arabern. Der in Westfalen geborene Jude über sein Leben und die gegenwärtigen Aussichten auf Frieden im Nahen Osten
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taz: Was war Ihr größtes Erfolgserlebnis?

Uri Avnery: Mein 70. Geburtstag. An dem Tag haben Jassir Arafat und Jitzhak Rabin die Briefe ausgetauscht, in denen sich beide Völker, Israelis und Palästinenser, anerkannt haben. Dies bedeutete, daß der politische Konsens zu uns gekommen war, daß wir recht hatten mit dem, wofür wir über vierzig Jahre gekämpft haben. Ich halte es da mit Schopenhauer: Am Anfang ist das Realistische lächerlich, dann wird es bekämpft, und schließlich wird es zur Selbstverständlichkeit. Leider sind wir heute wieder weit davon entfernt.

Und was war Ihre größte Niederlage?

Als ich 1973 nicht wieder in das israelische Parlament gewählt wurde. Von 1965 bis 1973 war ich Knesset-Abgeordneter. Viele haben mich für den besten Parlamentarier Israels gehalten. Und keiner, ich auch nicht, hat erwartet, daß ich nicht wiedergewählt würde. Das war schon bitter.

Wie kam es zu Ihrer Wandlung vom Terroristen zum Friedenskämpfer?

Ich war von sehr frühem Alter an Terrorist, mit 14 Jahren bin ich in den Untergrund gegangen, in die Irgun, die damals extremste Untergrundbewegung, die Bomben in arabische Märkte in Jaffa und Haifa gelegt hat. Da habe ich drei glückliche Jahre drin verbracht.

Warum sind Sie zur Irgun gegangen?

1938 haben die Engländer zum ersten Mal einen Juden erhängt, der irgendwo eine Bombe geworfen hatte. Und das hat uns alle empört. Das war der direkte Anlaß. Nach vier Jahren hat mich die reaktionäre, antisozialistische Einstellung der Irgun abgestoßen. Und da habe ich etwas gemacht, was eigentlich unerhört war. Unsere Hymne lautete „Aus unseren Reihen befreit nur der Tod“. Trotzdem bin ich ausgetreten. Ich bin zu der Überzeugung gekommen, daß unsere nationale Bewegung und die arabische nationale Bewegung sich im Kampf gegen den Kolonialismus und Imperialismus vereinigen können, daß sie Bundesgenossen sein können. Als ich in den Untergrund gegangen bin, habe ich gleichzeitig bei einem Rechtsanwalt in Jaffa zu arbeiten angefangen. Jaffa war eine rein arabische Stadt. Dort hatte ich Kontakt zu vielen Arabern. Und von daher habe ich von Anfang an eine andere Einstellung zu den Arabern. Ich kannte einfach viele Araber, manche von ihnen haben mir gefallen, andere nicht.

Aber erst mal zogen Sie 1948 in den Krieg gegen die Araber?

Ich war zehn Monate lang Frontsoldat. Wir sind in die Dörfer eingezogen, in denen die Öfen noch heiß waren und das Essen noch auf dem Tisch stand, wo Minuten vorher die Leute geflohen sind, und ich habe die Araber gesehen, die nicht geflohen sind. Und bei Kriegsende war ich etwas, was ich vorher nicht war: Ich war Pazifist.

Nach dem Krieg waren Sie Kommentator bei der Tageszeitung „Haaretz“ und haben wieder aufgehört. Warum?

Ich habe während des Krieges kleine Kriegsreportagen nach Hause geschickt. Ich habe einen Artikel geschrieben über den Frieden nach dem Krieg mit der Überschrift „Pax Semitica“. Das Semitische ist ja das, was Araber und Juden verbindet. Und dieser Artikel hat dem Chefredakteur von Haaretz, Gershom Sholem, sehr gefallen. Ich wurde im Krieg schwer verwundet. Als ich im Krankenhaus lag, kam er und bot mir an, Leitartikel in Haaretz zu schreiben. Ich war damals 25, und das hat mir sehr geschmeichelt. Nach dem Krieg hat man verbliebene arabische Dörfer zerstört und die Leute rausgeworfen. Ich habe einen Artikel dagegen geschrieben, den hat er veröffentlicht, das zweite und dritte Mal hat er sich geweigert, sie zu veröffentlichen. Und dann gab es eine kleine Wochenzeitung, Haolem Hazeh, die war zu verkaufen. Ich hatte die Kriegsreportagen als Buch herausgegeben. Das war ein Bestseller, und ich habe so viel Geld verdient, daß ich die Zeitung kaufen konnte. Heute steht in allen Büchern, daß es eine Zeitung war, die den hebräischen Journalismus und auch die hebräische Sprache revolutioniert hat.

Was war daran revolutionär?

Wir haben eine neue, einfachere Sprache erfunden. Wir waren sehr beeinflußt vom US-amerikanischen Journalismus. Bis dahin war die hebräische Presse im Lande staatstragend. Wie die palästinensische Presse heute. Wir aber haben alles, was die Regierung vertuschen wollte, veröffentlicht. Wir waren in totaler Opposition zu Staatsgründer Ben Gurion und allem, was er getan hat. Der heutige Staat ist ein Ben-Gurion-Staat, ein ultranationalistischer jüdischer Staat, in dem Nichtjuden praktisch nur geduldete Bürger sind und in dem es keine Trennung zwischen Religion und Staat gibt.

Ihre kritische Haltung stempelte Sie zum Außenseiter. Mit welchen Konsequenzen?

In den ersten Jahren hatten wir vier Bombenanschläge in der Redaktion, einen persönlichen Anschlag auf mich, drei Verwundete. Mir wurden die Hände gebrochen, als man mich aus einem Jeep zerren wollte. Die Täter hat man nie gefaßt, aber ich weiß, daß es mit Veröffentlichungen über das Massaker von Kibja zusammenhing. Eine Einheit unter der Führung des jetzigen Ministers Ariel Scharon ermordete 51 arabische Dorfbewohner. Unsere Zeitschrift wurde wirtschaftlich boykottiert. Am Ende ist Haolam Hazeh daran zugrunde gegangen.

Sie sind im westfälischen Beckum geboren. Haben Sie Erinnerungen an Ihre Kindheit in Deutschland?

Mein Großvater war Vorsteher der Jüdischen Schule in Beckum. Und mein Vater ist in Beckum geboren. Später sind wir nach Hannover gezogen. Dort bin ich bis zu meinem zehnten Lebensjahr aufgewachsen. Ich habe aber eine besondere Beziehung zu Beckum. Mein ganzes Leben lang habe ich Tausende von Formularen ausgefüllt, „Geburtsort Beckum“, das hat mir sehr gut gefallen, denn kein Mensch weiß, wo Beckum ist. Und wenn ich in die arabischen Staaten gefahren bin und geschrieben habe „Geburtsort Beckum“, wußten die nicht, was das ist, das war sehr gut. Und auch bei allen Geheimcodes habe ich immer „Beckum“ gewählt.

Wer hat denn in Ihrer Familie die Entscheidung getroffen, nach Palästina auszuwandern?

Mein Vater war Zionist, von früher Jugend an. Wir haben eine Urkunde, die meinen Eltern zu ihrer Hochzeit 1913 geschenkt worden ist, wonach der jüdische Nationalfonds in ihrem Namen einen Baum in Palästina gepflanzt hat. Aber wir haben nie daran gedacht, nach Palästina zu kommen. Es gab damals immer einen Juden, der einen zweiten Juden mit dem Geld eines dritten Juden nach Palästina schickte. Mein Vater war von Beruf Privatbankier. In Hannover wurde er Treuhänder. Bei einer Gerichtsverhandlung im Frühjahr 1933 hat ein junger deutscher Richter zu ihm gesagt: „Leute wie euch brauchen wir nicht mehr in Deutschland.“ In dem Augenblick hat mein Vater beschlossen, Deutschland zu verlassen. Und der Vater meiner Frau Rachel, der Kinderarzt in Berlin war, hat zur selben Zeit beschlossen, Deutschland zu verlassen. Wer solche Eltern hatte – Feiglinge oder kluge Leute oder Leute mit Vorahnungen –, der hat überlebt. Alle meine Verwandten, die in Hannover geblieben sind, sind umgekommen.

Sie sind heute in Deutschland ein angesehener und preisgekrönter Mann. Wird Ihnen das in Israel übelgenommen?

Nein, es wird ignoriert. Ich habe den Erich-Maria-Remarque-Preis in Osnabrück bekommen. Keine einzige Zeitung in Israel hat das erwähnt. Ich war sehr beeindruckt von Remarque. Er hat das beste Kriegsbuch aller Zeiten geschrieben. Und bis jetzt hat auch noch keine einzige Zeitung vom Aachener Friedenspreis geschrieben. Jerusalems Exbürgermeister Teddy Kollek hat alle Preise in der Welt bekommen. Er war der übelste Siedler im ganzen Land. Kein Mensch hat so viele Juden auf arabischem Boden angesiedelt wie Teddy Kollek. Er hat Boden enteignet, Araber rausgeworfen, jüdische Siedlungen draufgestellt und Friedenspreise bekommen. Genial.

Preise, die eher Ihnen zugestanden hätten?

Ich habe 1952 zum ersten Mal vorgeschlagen, daß Israel eine palästinensische Nationalbewegung im Westjordanland unterstützen soll, damit die Palästinenser einen Aufstand gegen die Jordanier machen und ihren eigenen Staat gründen, mit unserer Hilfe. Am fünften Tag des Sechstagekriegs 1967 habe ich einen Brief an den damaligen Ministerpräsidenten Levi Eshkol geschrieben und habe ihm vorgeschlagen, sofort einen palästinensischen Staat zu errichten. Heutzutage werden sehr, sehr viele Israelis, auch frühere Regierungsmitglieder, sagen, es war eine Dummheit, daß wir das nicht gemacht haben. Damals klang es allerdings etwas verrückt.

Sie haben eine besondere Beziehung zu Jassir Arafat, seit Sie ihn erstmals 1982, mitten im Krieg, in Beirut getroffen haben.

Ich habe Arafat in einem Moment getroffen, wo er absolut sicher war, daß er nicht mit dem Leben davonkommen würde; er war sicher, und ich war auch sicher. Ich habe mit ihm die Front inspiziert. Man stelle sich vor: Als Israeli inspiziere ich die palästinensischen Truppen an der Front gegen meine Armee. Zwölf Jahre später, als Arafat zum ersten Mal nach Gaza kam, hat er mich noch am selben Abend empfangen. Der Saal war voll von arabischen Journalisten. Ich stand da, er sah mich, ging auf mich zu, umarmte mich, und dann flüsterte er mir etwas ins Ohr. Die Journalisten waren natürlich ungeheuer neugierig. Arafat hat nur diesen einen Satz gesagt. „Erinnern Sie sich an das, was ich Ihnen in Beirut gesagt habe?“ Ich hatte ihn damals am Ende des Interviews gefragt: „Wo gehen Sie hin, wenn Sie hier lebendig herauskommen?“ Und er hatte geantwortet: „In die Heimat, nach Palästina.“ Dann nahm er meine Hand und zog mich auf die Tribüne. Und dort saß ich während einer Pressekonferenz, die in die gesamte arabische Welt übertragen wurde, neben Arafat. Ich glaube, er wollte damit demonstrieren, daß er die Beziehung zu Israel ernst meint.

Wie beurteilen Sie die jetzige Lage und die israelischen Vorwürfe, Arafat tue nicht genug gegen den Terrorismus?

Wir sind mitten in einem Krieg. Und in Kriegen macht man Propaganda. Als ehemaliger Terrorist habe ich sehr gut in Erinnerung, wie sehr eine Terrororganisation auf die aktive und passive Unterstützung der Bevölkerung angewiesen ist. Im ersten Jahr nach dem Abkommen von Oslo gab es keine nennenswerten Terroraktionen, weil die palästinensische Bevölkerung in ihrer Euphorie keinen Terror geduldet hätte. Und weil diese Organisationen nicht an Popularität verlieren wollten, sind sie sehr darauf bedacht, daß das, was sie tun, populär ist. In dem Augenblick, wo die Bevölkerung verzweifelt, da passieren Terroranschläge, und da kann kein Arafat helfen. Ich wundere mich, daß nicht jeden Morgen ein neuer Terroranschlag stattfindet. Denn wir sind in einem totalen Kriegszustand. An Hunderten von Orten wird in diesem Augenblick Boden enteignet, werden Häuser zerstört.

Wird es zwei Staaten geben in Palästina?

Ganz sicher. Die einzige Alternative ist ein Vernichtungskrieg im wahrsten Sinne des Wortes. Wir gehen gegenwärtig einem Blutbad entgegen. Und am Ende dieses Blutbades werden wir genau an derselben Stelle sein, wo wir einen Tag vor Oslo standen. Und die Regierung, die dann am Ruder ist, wird genau dasselbe tun, aus genau denselben Gründen, wie Rabin es getan hat. Das ist das Traurige an der Geschichte.

Nehmen wir an, Arafat stirbt morgen, sie finden einen arabischen Führer, der einen anderen Frieden unterschreibt, wie Netanjahu ihn will, und das halbe Westjordanland wird von Israel annektiert. Wie lange wird dieser Frieden Bestand haben? Ich bin in einem Land aufgewachsen, in dem alle Landkarten in allen Schulen eine rote Linie gehabt haben. Das war Deutschland, das Deutsche Reich. Die verlorenen Gebiete, Elsaß, Lothringen, Schlesien, der polnische Korridor. Und als die Nazis kamen, konnten sie nahtlos daran anknüpfen. Mein ganzes Leben lang habe ich gelernt, daß alle politischen Realisten Idioten sind. Interview: Georg Baltissen