Die Nachbarn des DFB-Quartier (3): „Fußball ist kein Volkssport mehr“

Welche Hoffnungen und Sorgen verbinden die Bewohner Salvador da Bahias mit der WM? Dort, wo die Deutsche Nationalmannschaft ihr Quartier hat.

„Die Fifa ist eine private Organisation. Die Gewinne sollten bei uns bleiben, in Brasilien, nicht nur die Kosten.“ - Rafaela Modesto Bild: Adenor Gondim/Goethe Inst.

 

Ich werde für Deutschland die Daumen drücken - solange sie nicht gegen Brasilien spielen“, sagt Rafaela Modesto. „Brasilien wird Weltmeister werden. Es würde unser Ego verletzen, wenn wir das nicht schaffen. Zu Hause zu verlieren ist viel schlimmer, als anderswo“, sagt die 15-jährige Schülerin - auf Deutsch.

 

Sie besucht das Colégio Anchieta in Salvador, eine der Partnerschulen des Goethe-Instituts. Seit zwei Jahren lernt sie freiwillig die Sprache. „Wir haben unsere Probleme, aber dennoch sind wir gut genug, eine WM auszurichten. Wir sollten nicht die Copa mit unseren eigenen Problemen verwechseln. Die müssen wir lösen, nicht die Fifa.“

 

Es klingt ein bisschen altklug. Rafaela ist jung, aber schon weit gereist, vor einigen Monaten zum ersten Mal nach Deutschland. Im Kölner Karneval sah sie die Wagen, die Dilma Rousseff und die Fifa aufs Korn nahmen. „Ich mag die Fifa nicht, weil sie Verträge und Gesetze durchgesetzt hat, die nicht gut für uns sind. Die Fifa ist eine private Organisation. Die Gewinne sollten bei uns bleiben, in Brasilien, nicht nur die Kosten.“

 

Rafaela reißt die Augen auf, fuchtelt mit den Händen. Die lebhafte Schülerin ist politisch interessiert, ehrgeizig und sprachbegabt. „Ich glaube nicht, dass man sich allzu große Sorgen machen sollte wegen der Proteste. Die haben an Intensität verloren. Wenn es so weit ist, wird es ein großes Fest für alle. Die Stimmung hier ist ansteckend. Wir sind ein fußballbegeistertes Land.“

 

Sie hat selbst eine Weile Fußball gespielt, aber dann blieb neben der Schule nur noch wenig Zeit. „Es ist eine Ehre, die ausländischen Besucher zu empfangen“, findet sie. „Ich wünschte, sie könnten sehen, wie vielfältig unser Land ist, wie jede Region ihre eigenen Charakteristika hat. Außer dem Fußball sollten sie unsere Kultur kennenlernen. Die Touristen werden sich begeistern für unser Volk.“

 

Rafaela Modesto, 15 Jahre, Schülerin

 

Mehr Kritik habe ich nicht, jetzt kann ich nur noch beten, dass alles klappt“, sagt der Mann am Steuer, während er scharf bremst, als ein Fahrzeug von der rechten Spur nach links zieht. Claudionor Cassiano Santana Filho, 49, ist seit 22 Jahren Taxifahrer in Salvador. Wie schon sein Vater, der manchmal noch am Steuer des weißen Doblò mit den roten und blauen Streifen sitzt. „Nur noch Tage bis zum Anpfiff, wir müssen das Beste aus der Copa machen - oder etwa nicht?“

 

Cassiano wird während der WM arbeiten. Er wird ein frisch gebügeltes Hemd anziehen, dazu eine neue schwarze Stoffhose, und die Lederschuhe wird er polieren, bis sie glänzen. Mit einem Kunden hat er für den ersten Spieltag bereits vereinbart, dessen Gepäck während der Partie im Auto zu verwahren.

 

Anders wäre es nicht möglich, dass dieser nach Ankunft am Flughafen in Salvador noch rechtzeitig zum Spielbeginn am anderen Ende der Stadt kommt. Sein Wunsch für den WM-Titel: „Am liebsten ein afrikanisches Land - aber das ist ein Traum.“

 

Im Auto riecht es nach Männerparfüm, die Klimaanlage steht bei 16 Grad, Regen prasselt gegen die Scheiben. Cassiano ist optimistisch - und einer der wenigen Taxifahrer mit Sympathie für die Arbeiterpartei von Präsidentin Dilma Roussef. Nicht alles in den letzten Jahren sei schlecht gewesen. Der Kuchen werde jetzt anders verteilt. „Ich weiß, was Armut ist. Früher arbeitete die Tochter einer Hausangestellten auch im Haushalt, der Sohn eines Taxifahrers fuhr Taxi - das ist heute anders.“

 

Cassiano hat drei Kinder, die Tochter arbeitet bei der Sparkasse, ein Sohn bei einer Eventfirma, der Jüngste geht noch zur Schule. Cassiano schiebt die Sonnenbrille hoch, dreht den Kopf nach hinten, Besorgnis verdunkelt sein Gesicht. „In der Schule werden sie aufgewiegelt, auch mein Sohn hat an den Protesten im letzten Jahr teilgenommen.“ Und dieses Jahr? Ja, es werde Proteste geben, aber nach den Vorfällen mit den schwarzen Blöcken habe die Bewegung an Kraft eingebüßt: „Bahia ist anders. Wir haben die schönen Strände, die Feststimmung liegt in der Luft, und wir Baianos sind gastfreundlich. Die Ausländer werden glücklich nach Hause fahren!“

 

Claudionor Cassiano Santana Filho, 49, seit 22 Jahren Taxifahrer

„Jetzt kann ich nur noch beten, dass alles klappt.“ - Claudionor C.S. Filho Bild: Adenor Gondim/Goethe Inst.

 

Ich bewundere die Brasilianer, die im Juni 2013 auf die Straße gingen. Ich war gerade erst in Porto Alegre angekommen. Bildung, Gesundheit, öffentliche Verkehrsmittel wurden gefordert, alles wichtige Anliegen, statt Geld für Stadien auszugeben.“ Selbst am Telefon ist die Begeisterung der engagierten 56-Jährigen zu spüren.

 

Nur nicht über die WM: „Der sehe ich sehr skeptisch entgegen. Es herrscht eine unsichere Spannung, weil man nicht weiß, wie sich die Dinge entwickeln. Am besten kann man es vielleicht mit einem Bild ausdrücken, das ich täglich sehe: Rund um das renovierte Beira-Rio-Stadion des Fußballclubs Internacional sollten mehr Parkplätze entstehen - jetzt liegt dort der Bauschutt des Stadions. Was wird passieren? Viele sagen: Die WM gehört der Fifa, das Stadion dem Sport Club Internacional - und der Müll soll von der öffentlichen Hand entsorgt werden? Das würde bedeuten, dass die Gewinne privatisiert, die Kosten aber der Allgemeinheit aufgebürdet werden.“

 

In São Paulo hat sie die WM 1994 erlebt. Brasilien wurde Weltmeister. Auch 1998 war die Stimmung gut, bis Brasilien im Endspiel gegen Frankreich verlor. „Wenn Brasilien früh ausscheidet, wird es schwierig für die Regierung. Gerade deshalb sagen viele, es sei besser für das Land, wenn Brasilien verliere.“ Fußball sei nicht mehr der Volkssport wie einst. Die Stadien mit ihren VIP-Bereichen seien für die meisten Brasilianer nicht mehr zugänglich: „Das ist ein Rückschritt zu den Anfängen, als Fußball ein Sport der Eliten war.“

 

Derzeit wende sich die Stimmung eher positiv. Zum Protesttag am 15. Mai hatten sich über Facebook 1.600 Teilnehmer angekündigt, es kamen 100.

 

Marina Ludemann, 56 Jahre, seit 2013 Leiterin des Goethe Instituts in Porto Alegre