Mythos Malente vor der Fußball-WM: „Das waren alles hübsche Männer“

In der Sportschule Malente entstand der Mythos der Nationalelf. Mythos? Hausmeister und Hausdame wissen es besser.

Bundestrainer Helmut Schön, Franz Beckenbauer und Günter Netzer 1974 in Malente Bild: imago/WEREK

Der Taktikraum in der Sportschule Malente: klein, kompakt, eine holzvertäfelte Wand, grüne Tischlampen, ein Bücherregal, ein Holztisch, ein paar Stühle und eine große Fensterfront mit Blick auf das Trainingsgelände. Während der Weltmeisterschaft 1974 soll in diesem originalgetreu erhaltenen Zimmer nach der Niederlage gegen die DDR „der Geist von Malente“ entstanden sein. Der ehemalige Hausmeister Uwe Schlüter, ein Norddeutscher, und Erika Höpfner, die Hausdame für Reinheit, präsentieren ihre Fotoalben mit privaten Schnappschüssen von Netzer, Beckenbauer, Klinsmann und Völler.

sonntaz: Frau Höpfner, Sie haben als Friseurin gearbeitet, bevor Sie nach Malente kamen. Wenn man sich auf Fotos die Frisuren der damaligen Nationalspieler ansieht, fragt man sich, warum Sie nicht eingegriffen haben.

Erika Höpfner: Das ging natürlich nicht. Das hätten die niemals erlaubt. Die waren ja alle sehr eitel. Aber Sie haben schon recht, einigen Nationalspielern hätte ich wirklich einmal gerne die Haare geschnitten.

Uwe Schlüter: Ja, Frau Höpfner, schade, dass Sie 1974 noch nicht hier waren. Da hätten wir Sie gut gebrauchen können. Man denke nur an die haarsträubende Mähne von Paul Breitner.

Und Sie, Herr Schlüter, waren, bevor Sie hierherkamen und Hausmeister der deutschen Nationalmannschaft wurden, gelernter Melkermeister.

Er: Ich sag mal so: Ob das nun Kühe oder Fußballer waren, beide brauchten sie eine Rund-um-die-Uhr-Betreuung.

Sie: Mein bereits verstorbener Mann wurde nach dem Herrn Schlüter Hausmeister, der war übrigens auch Melkermeister. Daran können Sie mal sehen, dass wir hier in Schleswig-Holstein sind.

Waren Sie aufgeregt, als die Nationalspieler kamen?

wurde am 5. Dezember 1933 geboren. Er ist gelernter Melkermeister und kam 1970 als Hausmeister an die Sportschule Malente - zusammen mit seiner Frau, die dort kochte. Uwe Schlüter mähte und walzte zweimal täglich den Rasen auf dem Spielfeld. Bis 1979 lebten er und seine Familie in der Hausmeisterwohnung der Sportschule.

Er: Ich nicht. Das waren Menschen wie alle anderen.

Sie: Bei mir war das anders. Als ich das erste Mal Franz Beckenbauer den Kaffee eingeschenkt habe, da hat mir die Hand ganz schön gezittert. Die wurden ja alle mit so dicken Mercedessen vom Flughafen aus Hamburg hierher chauffiert. Und ich mochte damals den Karl-Heinz Rummenigge doch so gern. Also, im Fernsehen. Na ja, und dann war der hier, und dann habe ich den nicht mehr gemocht.

Weil er anders war, als Sie gedacht hatten?

Sie: Der war total arrogant. Eine Frau hier aus Malente hat dem jeden Tag einen wunderschönen Blumenstrauß geschickt. Da hat einer bestimmt hundert Mark gekostet. Und ich sag: Herr Rummenigge, da sind Blumen für Sie abgegeben worden, und der hat die noch nicht einmal angeschaut. Dann gab es immer Salatbuffet. Der Herr Rummenigge wollte einen Extrasalat nur mit Karotten und Zitronensaft. Am zweiten Tag habe ich ihm den gleichen Salat wie am ersten vorbereitet, und dann sagt er so mit herablassender Stimme: Das hier können Sie gleich wieder mitnehmen. Das ist doch Hasenfutter! Und dann erst der Lothar Matthäus …

Auch ein Schnösel?

Sie: Ja. An einem Tag hatten wir mal keine Leberwurst. Da hat der sich aufgeregt wie so ein kleines verzogenes Kind: Ich will aber jetzt meine Leberwurst!

wurde am 12. Dezember 1950 geboren. 1966 machte sie eine Ausbildung zur Friseurin. Ihr Mann arbeitete nach Uwe Schlüter, ab 1979, als Hausmeister an der Sportschule Malente. Von 1982 bis 1994 war Erika Höpfner dort Hausdame für Reinheit. Sie hat einen Sohn. Ihr Mann ist bereits verstorben.

Er: Da habe ich auch so einen Fall. Der Uli Hoeneß, mir wird heute noch anders, wenn ich diesen Namen höre, und das hat nichts mit seiner Steuerhinterziehung zu tun. Der war damals einfach sehr hochnäsig. Nur ein Beispiel: Meine Frau hat morgens bedient, jeder bekam das Getränk, das er wollte. Und meine Frau fragt: Was wollen Sie, Herr Hoeneß? Keine Antwort. Na, dann hat sie erst den anderen was gegeben. Da schreit und blafft der Hoeneß: Was ist denn das hier? Warum habe ich noch nichts zu trinken bekommen? Der war immer motzig. Ganz schlimm.

Gab es Spieler, die Sie mochten?

Sie: Der Herr Beckenbauer war ein sehr netter und höflicher Mann. Der hat immer herzlich gegrüßt und Guten Morgen gesagt und gefragt: Habt’s gut geschlafen? Ganz anders als zum Beispiel der Herr Vogts.

Wie war der Herr Vogts?

Sie: Der war unnahbar. An dem konnten Sie vorbeigehen und dreimal Guten Morgen sagen, da kam nichts zurück. Und wissen Sie, beim Abschied 1994, da hat der sich nicht einmal bei uns bedankt. Das fand ich unmöglich. So etwas wäre bei Herrn Beckenbauer nie passiert, der hat sich 1990 hingestellt und gesagt: Sie haben ja jetzt die am besten verdienenden Männer Deutschlands bedient. Und Sie haben Ihre Sache großartig gemacht. Und dann hat er mir eine Handvoll Geld gegeben, und ich habe nur so einen Tausendmarkschein gesehen und ihn ganz schnell in meine Kitteltasche gepackt. Vom DFB hätten wir für elf Bedienstete nur dreihundert Mark als Trinkgeld bekommen. Aber da hat der Franz Beckenbauer wohl gesagt, nee, die Blöße gebe ich mir nicht. Jeder Spieler musste fünfzig Mark geben und den Rest hat er aus seiner eigenen Tasche bezahlt. Bei Berti Vogts gab es kein Extra-Taschengeld.

Mochten Sie einen Spieler besonders, Herr Schlüter?

Er: Der Günter Netzer, der war mein Freund. Ich mag Leute, die ein bisschen zurückstehen. Der Netzer hatte damals keinen Stammplatz. Der konnte auch nicht so viel mit den anderen anfangen. Aber die Fans hat er sehr gut behandelt, ist öfter auch mal zu denen an den Zaun gegangen. Ein richtig anständiger Kerl.

Wie war die Stimmung in der Mannschaft während der WM 1974?

Er: Der Koch war das Heiligtum der Nationalmannschaft. Nach 18 Uhr gingen fünf bis zehn Spieler runter in die Küche und bekamen da Getränke, die man oben offiziell nicht trinken durfte. Also Bier, Schnaps und Wein. Der Koch selbst wusste mittags oft schon nicht mehr, wo er war. Dann hat er sich mittags hingelegt, und dann ging es wieder. Alle haben den geliebt.

Wer hat denn am meisten getrunken?

Er: Ich weiß nur, dass der Gerd Müller morgens schon seinen schwarzen Johannisbeersaft trinken wollte. Und das war dann eben kein Saft.

1974, das war auch die Zeit der RAF und der Terroranschläge. Wie waren die Sicherheitsmaßnahmen damals?

Er: Das war extrem. An allen Türen gab es eine Alarmanlage. Drinnen waren vier Kriminalbeamte. Rund um die Uhr. Die haben auch hier geschlafen. Wenn mein Sohn zum Beispiel nach Hause kam – wir wohnten ja hier –, stand da sofort ein Beamter. Und draußen gab es Beamte mit einer Hundestaffel.

Hatten Sie Angst?

Er: Na ja, wir waren ja gut gesichert. Aber einmal habe ich morgens die Post geholt, die musste man zur Polizeidurchleuchtung bringen. Und in einem Päckchen war eine Bombenattrappe drin. Einen Drohbrief bekam ich auch. Da stand, dass wir besser aufpassen sollten. Uns könnte nämlich bald etwas passieren.

Sie: Zu meiner Zeit war das nicht mehr so schlimm. Wir hatten auch keine Hundestaffeln. Bei uns hat man nur unten das Eingangstor bewacht. Mein Sohn, der war damals zwanzig, also zur 90er WM, ist einmal nachts von einer Fete gekommen und einfach über den Zaun geklettert. Der Wachmann lag im Auto und hat geschlafen.

Herr Schlüter, Sie haben die 0:1-Niederlage gegen die DDR 1974 live im Hamburger Volksparkstadion gesehen.

Er: Als das Spiel zu Ende war, herrschte im Stadion eine Totenstille. Niemand hat etwas gesprochen, alle waren entsetzt.

Und in Malente?

Er: Wir haben gegessen. Die haben übers Spiel geredet: Warum hast du da nicht aufgepasst, dort musst du doch abspielen, den hättest du doch reinmachen müssen. Danach haben wir uns alle das Spiel noch mal auf Video angeschaut. Um zwei Uhr sind wohl noch einige Spieler in diesen Raum hier gekommen. Aber darüber kann ich nichts mehr sagen, weil ich dann schlafen gegangen bin.

Es heißt, dass einige Führungsspieler bis in den Morgen hinein geraucht, getrunken und gestritten haben. Franz Beckenbauer hat wohl als Kapitän das Heft in die Hand genommen und die Mannschaft neu aufgestellt. In dieser Nacht des 22./23. Juni, so der Mythos, soll der Geist von Malente entstanden sein.

Er: Das stimmt nicht. Der Geist war schon vierzehn Tage vorher da. Irgendjemand, ich weiß heute noch nicht, wer, hat auf dem Trainingsgelände eine Figur mit einem weißen Bettlaken und einem Fußball als Kopf aufgestellt. Sah so ein bisschen aus wie eine Vogelscheuche. Erst später, nach der WM, hat wahrscheinlich ein Journalist diesen Geist mit jener Nacht in Verbindung gebracht. Schauen Sie, hier ist ein Foto, da sitze ich neben dem Geist.

Sie: Bei uns hat das die Familie Zaun gemacht, die wohnt gleich da drüben. Die haben bei sich im Garten zum Endspiel 1990 auch so einen Geist aufgestellt. Und es fiel doch so lange kein Tor. Dann haben wir die Bilder der Spieler um den Geist aufgestellt und Kerzen dazu. Wir waren echt bekloppt. Zum Glück hat der Herr Brehme den Elfmeter verwandelt. Ich habe hier ein Foto von Herrn Brehme mit Badelatschen und nur einem Handtuch bekleidet. Die haben ja im Gang geduscht, und da habe ich schon mal hingeschaut. Das waren ja alles hübsche Männer. Damals war alles so euphorisch, da war so eine tolle Stimmung in der Mannschaft.

Noch mal zurück zum 22. Juni 1974: Sepp Maier und Uli Hoeneß sind in jener Nacht aus dem Trainingslager abgehauen, um zu ihren Frauen nach Hamburg zu fahren. Erst im Morgengrauen kamen sie wieder betrunken nach Malente zurück. Wie konnten die beiden trotz der Sicherheitsmaßnahmen einfach verschwinden?

Er: Ich weiß es nicht. Aber was man so hört, sind die wohl öfter mal abgehauen.

Sie: Wahrscheinlich haben die den Polizisten einen Fuffi zugesteckt.

Er: Dazu kann ich nichts sagen.

Wie war das während Ihrer Zeit, Frau Höpfner: Sind da auch ein paar Spieler über den Zaun geklettert?

Sie: Einer aus dem Trainerstab – ich nenne jetzt mal lieber keinen Namen – ist nachts immer verschwunden. Der soll wohl hier auf dem Nachbarhof eine Frau gehabt haben, und das war nicht seine Ehefrau. Morgens um Viertel vor sieben ist der immer mit einer Zeitung im Arm zurückgekommen. Hat immer so getan, als ob er sich eine Zeitung gekauft hätte. Dabei wurden alle Zeitungen morgens hier angeliefert.

So viele Männer in der Abgeschiedenheit der Holsteinischen Schweiz, umgeben von Seen, Wäldern und Kühen, ohne Abwechslung und ohne Frauen. Gab es da nicht das ein oder andere unmoralische Angebot?

Sie: Nee, nein. Wirklich nicht.

Sind Sie sicher?

Sie: Na ja, wir hatten mal eine sehr hübsche Köchin. Die hat so Holzschuhe getragen, die machen ja so einen Lärm auf dem Boden. Morgens sind wir mal zur Arbeit gekommen, und da kam schon der Koch: Was war denn da los in der Nacht? Franz Beckenbauer hätte da so einen Krach gehört und ein Schuhklappern. Wenn der Herr Beckenbauer rausbekommen hätte, dass die auf ein Zimmer gegangen ist, hätte die sofort gehen müssen. Bei so etwas wäre man sofort gefeuert worden.

Vergisst man die Vogelscheuche, ist der Geist von Malente dann ein Mythos?

Er: Es war eng, Doppelbelegung in einem kleinen Zimmer, es wurde hart gearbeitet, das war’s. Ich habe mich als 23. Mann empfunden.

Sie: Wir waren schon eine eingeschworene Truppe. Sogar mein Sohn hat sich freigenommen und für die Mannschaft Dinge erledigt. Oder einmal war der Berthold erkältet. Der Mannschaftsarzt hat gesagt, der Berthold braucht ein Erkältungsbad. Und mein Mann und ich waren die Einzigen, die eine Badewanne hatten, die anderen hatten ja nur eine Dusche. Da hat mein Mann gesagt, dass der bei uns baden kann. Der lag dann bei uns in der Badewanne, und weil das Wasser so langsam lief, hat mein Mann aus der Küche einen 10-Liter-Eimer mit heißem Wasser geholt und ihn zu Berthold in die Badewanne gekippt. Wir haben alle zusammengehalten. Aber das mit dem Geist lag auch am jeweiligen Trainer.

Wie meinen Sie das?

Sie: 1990 war die Stimmung mit Beckenbauer einfach großartig. Aber 1994 mit Berti Vogts, na ja, da hab ich Ihnen ja schon einiges erzählt. Das war nicht so toll. Als die im Viertelfinale gegen Bulgarien rausgeflogen sind, habe ich zu meinem Mann gesagt: Na, Gott sei Dank haben die jetzt verloren. Und dann hat mein Mann gesagt: Das kannst du doch nicht sagen! Hast du denn gar kein Nationalbewusstsein? Aber das war so doof mit denen, da hab ich das denen richtig gegönnt, dass die gegen die Bulgaren verloren haben.

Mittlerweile residiert die Mannschaft in 5-Sterne-Hotels mit Swimmingpool und Golfplatz. Glauben Sie, die Spieler bräuchten weniger Luxus und mehr Malente, um erfolgreich zu sein?

Sie: Ich glaube schon. Die Zimmer waren ja nun sehr klein. Und da war der Fernseher, da waren die Zeitungen und die ganzen Klamotten. Die Spieler bekamen immer eine Obstschale aufs Zimmer gestellt, und manchmal wussten wir gar nicht mehr, wo wir die noch hinstellen sollten. Ich glaube, dass die Spieler es gerne komfortabler gehabt hätten. Aber wissen Sie, der Franz Beckenbauer hat bei der Begrüßung einmal gesagt: Ihr könnt auch mal eine Woche wieder einfacher leben. Diese Einschränkung wird euch guttun.

Er: In Malente konnten die sich noch auf den Fußball konzentrieren. Hier haben die hart gearbeitet. Ein wenig mehr Härte und Bodenhaftung würde denen guttun, die heben viel zu schnell ab.

Wird Deutschland trotzdem Weltmeister?

Sie: Glaube ich nicht. Denen fehlt dieser Zusammenhalt von 1990.

Er: Auf keinen Fall werden die Weltmeister. Die haben keinen Führungsspieler, der – wie früher Beckenbauer oder Netzer – die ganze Mannschaft zum Sieg führen könnte.

Herr Schlüter, warum heißt diese Gegend eigentlich Holsteinische Schweiz? Es gibt Kühe, Seen, Hügel – aber einen Berg?

Er: Der Bungsberg ist mit 168 Metern die höchste Erhebung.

Das ist doch kein Berg.

Er: Da haben Sie recht. Das ist kein Berg, das ist norddeutscher Humor.

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