Psychoanalytiker über Suárez-Biss: „Hier ging es um Sexuelles“

Italien ist raus und niemanden interessiert's. Weil alle über Luis Suárez reden. Was fasziniert uns so an dessen animalischem Verhalten?

„Das Beißen an sich ist, auf der untersten Schicht des Psychischen, eine Art Selbstabnabelung von der Mutterbrust.“ Bild: dpa

taz: Herr Schneider, gestern konnten wir als Publikum sehen, wie Luis Suárez dem italienischen Spieler Giorgio Chiellini in die linke Schulter biss. Was sahen wir da genau?

Christian Schneider: Was man an allen Reaktionen seit Dienstagabend sehen kann: etwas doch ziemlich Erschreckendes. Das Beißen ist ja ein sehr regressiver Akt.

Um wie ein vorerwachsenes Gemüt starke Spuren zu hinterlassen?

Ja, auch das. Aber schon bei Kindern sieht man: Bei Balgereien scheidet jeder sofort aus, der mit den Zähnen, also mit Beißen kämpft. So jemand ist nicht mehr satisfaktionsfähig. Selbst in aggressiven Formen der Auseinandersetzung wird das nicht toleriert.

Können Sie erklären, warum dieser Spieler auf dieses Mittel zurückgriff? Was ist bei seinem Selbstzivilisierungsprozess schiefgelaufen?

Wie wir als Publikum erfahren haben, ist es ja nicht das erste Mal gewesen, dass Suárez es getan hat. Keine Spökenkiekerei, aber da müsste man auf einen psychopathologischen Befund schließen. Das sind fast Übersprungshandlungen, bei der in einer aktuellen Konfliktsituation sich das Beißen als kindliche, regressive Handlung ausdrückt. Das hat natürlich auch immer eine Ambivalenz.

Jahrgang 1951, Psychoanalytiker und Kulturwissenschaftler, lebt in Frankfurt am Main. Er schreibt seit 2000 für die taz; jüngste Buchveröffentlichung: „Gefühlte Opfer. Illusionen der Vergangenheitsbewältigung“ (Stuttgart 2012).

Welche könnte das sein?

Das Beißen an sich ist, auf der untersten Schicht des Psychischen, eine Art Selbstabnabelung von der Mutterbrust. Wo der lustvolle Akt des Saugens übergeht in einen des Beißens.

Es war ja ein Zweikampf unter Männern …

… bei dem in diesem Fall beide wesentlichen Aspekte zum Tragen kamen: das aggressive Beißen, das Abnabelnde – aber auch das lustvolle Liebesbeißen. Vermutlich jedoch sieht der gute Herr Suárez sich nicht als einen besonders aggressiven Spieler.

Vermutlich scheint er einer, der auf jeden Fall, wie man auch sehen konnte, zu einer gewissen Wehleidigkeit neigt, wenn er selbst körperlich angegangen wurde.

Er, so lesen wir von ihm, hält sich bestimmt für höchst unschuldig.

Wie ein Ertappter, oder?

Der leugnet, was sehr sichtbar war, ja.

„Das sind fast Übersprungshandlungen, bei der in einer aktuellen Konfliktsituation sich das Beißen als kindliche, regressive Handlung ausdrückt.“ Bild: dpa

Wir fragen uns: Hat Suárez es womöglich nie geschafft, sich von der Zufuhr durch primäre Lustquellen zu lösen?

Das könnte möglich sein – aber natürlich können wir es nicht genau wissen. Auch interessant ist, dass die Bilder, die uns das Fernsehen lieferte, sowohl das benannte Erschrecken aber auch eine gewisse Belustigung bewirken.

Und eine faszinierte Lust an der Beschäftigung mit diesem zwiespältigen Biss, den das Opfer, Giorgio Chiellini, fast stolz herzeigte.

Exakt. Der beherzte Biss des Herrn Suárez war etwas ganz und gar anderes als das schlicht aggressive Ohrabbeißen Mike Tysons 1997 im Kampf gegen Evander Holyfield.

Luis Suárez’ Biss funktionierte, so sahen wir es, wie aus einem Reflex heraus – er lief seinem Opfer nicht hinterher, sondern nutzte eine körperlich sich bietende Möglichkeit.

Eben. In der Ambivalenz kam hier besonders der sexuelle Aspekt zum Vorschein.

Eine Studie sagt, im Frühjahr und Sommer wird mehr gebissen als in Herbst und Winter. Ist das erklärlich?

Ich habe wirklich keine Ahnung.

Und weshalb, da wir nun ja über Männer und ihr Agieren immer nur sprechen, ist das Beißen wie das Kreischen meist eine Domäne der Mädchen und Frauen?

Weil diese, durch kulturelle Prägungen, nicht anders dürfen. Frauen schlagen nicht zu – sie beißen. Jungs und Männer lernen beziehungsweise haben die Codes verinnerlicht, dass man Aggressionen austrägt ohne Beißen.

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