Kraxeln für den Kreml

Wie ich einmal zu Friedenszwecken die „Junge Welt“ bestieg  ■ Von Jens
König

Es begann, wie es beginnen mußte: mit einem Brief an einen teuren Genossen. „Teurer Genosse Mironenko“, stand da. Der Rest war Formsache.

„Der Zentralrat der Freien Deutschen Jugend wendet sich mit einer Bitte an das ZK des Leninschen Komsomol, die die Unterstützung der ideologischen Arbeit bei der internationalistischen Erziehung der Jugend unseres Landes betrifft. Die Zeitung der FDJ, die Junge Welt, die im kommenden Jahr ihren 40. Geburtstag begeht, möchte vor dem 70. Jahrestag der Großen Sozialistischen Oktoberrevolution gemeinsam mit Komsomolzen und FDJlern eine Aktion starten, die den vereinten Friedenswillen unserer Jugend symbolisch zum Ausdruck bringt.“ Auf dem Briefumschlag stand: An den Kandidaten des ZK der KPdSU und 1. Sekretär des ZK des Leninschen Komsomol, Genossen Viktor Iwanowitsch Mironenko. Dahinter: MOSKAU. Keine Straße, keine Postleitzahl.

Hier hatte einer Großes vor. Als der Brief in Moskau ankam, brannte im Kreml noch Licht. Der große Bruder lächelte zufrieden. Er mochte es, gebeten zu werden. Er trat an die große gewölbte Landkarte und ließ seinen Blick lange über seine 15 Republiken schweifen. Durch Mittelasien zog sich das Fan-Gebirge. Der große Bruder legte den Kopf auf die Schulter, um die Höhe der Erhebungen vergleichen zu können. Dann griff er zum roten Telefon. In Duschanbe in Tadschikistan knackte es in der Leitung. „Genosse!“ brüllte der große Bruder in den Hörer. „Wir werden einen eurer Berge verschenken!“

Das war 1986. Die Junge Welt war noch eine große Zeitung. 1,5 Millionen Auflage. Da konnte man schon großen Gedanken verfallen. Ein Jahr später sollten fünf Bergsteiger aus der DDR einen noch unbezwungenen Viereinhalbtausender im tadschikischen Fan-Gebirge besteigen und ihn „Pik Junge Welt“ nennen. Für Volker Krause, Lutz Protze, Helfried Hering, Thomas Athenstaedt und Andreas Geißler kein Problem, sie waren schon auf Achttausendern. Aber wer würde von diesem Ereignis berichten? Ein Journalist mußte mit auf den Berg. Seine Rolle als kollektiver Agitator, Organisator und Propagandist verlangte journalistische Genauigkeit.

Die Klärung dieses etwas heiklen Problems wurde aus naheliegenden Gründen der Sportredaktion der Jungen Welt übertragen. Die Kollegen, allesamt nicht mehr die Jüngsten, hatten sich in zehn Sekunden entschieden. Keiner sagte ein Wort, alle schauten nur auf mich. Ich war 23 und ging einmal die Woche zum Fußball. Das reichte. Ich war der einzige, der den Friedenswillen unserer Jugend symbolisch zum Ausdruck bringen konnte, weil ich der einzige war, der es überleben würde.

In der Nacht träumte ich von unserer Expedition. Ich war im dritten und letzten Basislager vor der Gipfelbesteigung allein zurückgeblieben, krank vor Erschöpfung. Seit vier Tagen hatte ich von den anderen keinen Funkspruch mehr empfangen. Mein Proviant würde höchstens noch 48 Stunden reichen. Plötzlich löste ein fürchterlicher Schneesturm das Zelt aus seiner Verankerung. Ich dachte daran, daß sich Reinhold Messner alle Zehen abgefroren hatte.

Am 16. August 1987 flogen wir nach Duschanbe. Die tadschikischen Genossen meinten es ernst mit der Unterstützung der ideologischen Arbeit bei der Erziehung der Jugend unseres Landes. Sie hatten am Flughafen kurzerhand eine große Pressekonferenz anberaumt. Der Komsomolez Tadschikistana, die Jugendzeitung, hatte von unserer Landung vorsichtshalber gleich auf Seite 1 groß berichtet. Wie damals bei Juri Gagarin.

Andrej, unser Fahrer, war weniger vorsichtig. Er hatte sich der Traditionspflege verschrieben und trank schon am Vormittag. Die tiefen Gebirgsschluchten, an denen er mit seinem Auto vorbei mußte, waren für ihn kein Problem. Für uns schon. Als wir in 2.600 Meter Höhe in unserem Basislager ankamen, hatten unsere Nerven den ersten Test bestanden – und wir das Schlimmste hinter uns.

Am nächsten Morgen um vier Uhr aßen wir Griesbrei. Dann begann der Marsch zum Fuße des Berges. Schon nach drei Stunden hatten wir über 40 Grad. Ich dachte an mein schattiges Plätzchen in Andrejs Auto. Mit Zwieback und Obst versuchte ich mich zu stärken. Aber die Sonne schien gnadenlos. Nach 14 Stunden fiel ich todmüde in meinen Schlafsack. Eine Stunde später erwachte ich wieder. Mir war schlecht. Meine Tagesration lag vor mir auf einem tadschikischen Felsen.

Am nächsten Morgen um fünf ging es weiter. An dem Fluß, den wir überqueren mußten, war die Brücke weggerissen. An Schwimmen war wegen der starken Strömung nicht zu denken. Wir sicherten uns jeder mit zwei Seilen und zogen uns gegenseitig durch das acht Grad kalte Wasser. Am anderen Ufer begann der Aufstieg. Wir redeten nicht viel. Wir quälten uns stundenlang durch Geröll. Meine Gelenke waren ausgeleiert und schmerzten, als in 3.900 Meter Höhe plötzlich ein Schneefeld vor uns auftauchte. Während die anderen mit stoischer Ruhe ihre Steigeisen anlegten, begann ich zu verzweifeln. Die Sonne blendete von oben und von unten. Mit meinem Eispickel, den ich zu Hause in der Tiefkühltruhe ausprobiert hatte, rutschte ich immer wieder ab.

In 4.000 Metern türmten sich steile Felsplatten vor uns auf. Ich glaubte, bis zum Gipfel sei es nicht mehr weit. Als ich dann noch zwei Stunden über einer Schlucht in den Seilen hing, glaubte ich gar nichts mehr. Zunächst traute ich mich weder nach oben noch nach unten zu gucken, dann konnte ich auch das nicht mehr. In 4.206 Meter Höhe wurde ich auf den Gipfel gezerrt. Ich war tot.

Eine Stunde später wäre unsere Mission fast noch gescheitert. Wir versuchten, eine Metallplatte, auf der „Pik Junge Welt“ stand, am Felsen anzubringen. Wir hämmerten und hämmerten. Sie fiel wieder ab. Wir hämmerten weiter, dann halfen wir mit Pflaster nach.

Beim Abstieg drehte ich mich noch einmal um. Die Platte hing. Der Berg war verschenkt. Die deutsch-sowjetische Freundschaft hielt. Mit Pflaster.

Der Autor war von 1987 bis 1989 Redakteur der „Jungen Welt“, ab November 1989 bis 1994 ihr Chefredakteur. Seitdem arbeitet er bei der taz.