Palästinensische Diplomatin über Gaza: „Die Opfer haben alle ein Gesicht“

Israels Bodenoffensive wird blutig, fürchtet Khouloud Daibes, Leiterin der palästinensischen Mission in Berlin. Doch ohne die Hamas werde es keinen Frieden geben.

Eine Familie in Gaza flüchtet vor den anrückenden Bodentruppen, um in einer UN-Schule Schutz zu suchen. Bild: dpa

taz: Frau Daibes, in der Nacht zu Freitag hat Israel mit seinem angedrohten Einmarsch in den Gazastreifen begonnen. Was fürchten Sie?

Khouloud Daibes: Dass es zu noch mehr Opfern kommt. Schon jetzt sind mehr als 230 Palästinenser getötet worden, 700 Häuser wurden bombardiert, und mehr als 200.000 Menschen sind auf der Flucht, die im abgeriegelten Gazastreifen nicht wissen, wohin.

In Kairo wurde diese Woche um einen Waffenstillstand gerungen. Warum hat die Hamas ihn nicht angenommen? Israel war dazu angeblich bereit.

Unser Präsident Abbas befindet sich zur Zeit in Kairo und bemüht sich um ein Abkommen, das von allen Beteiligten akzeptiert wird. Die PLO hat die ägyptische Initiative sofort angenommen, um unsere Bevölkerung vor den israelischen Angriffen zu schützen. Es braucht jedoch dringend einen umfassenden Fahrplan, um die Menschen in Gaza aus ihrer verzweifelten Lage zu befreien.

Welche Bedingungen stellt die Hamas?

Die Lage im Gazastreifen ist schon seit sieben Jahren dramatisch, sie hat sich jetzt weiter verschärft. Schuld daran ist die Abriegelung und Besatzung durch Israel. Das muss sich ändern.

Israels Armee hat sich doch vor neun Jahren aus dem Gazastreifen zurück gezogen.

Es handelt sich um sogenannte Abkoppelung, aber Israel hält weiter die militärische Hoheit über das Gebiet. Es ist nach internationalem Recht deshalb weiterhin für die Sicherheit und die humanitäre Versorgung der Menschen dort verantwortlich. Das Kernproblem bleibt darum die Besatzung, die Abriegelung. Es ist unmöglich, eingesperrte und hungrige Menschen ohne Strom und Trinkwasser zum Frieden zu bomben. Diese Menschen brauchen eine Zukunft.

48, leitet seit August 2012 die palästinensische Mission in Berlin. Die Architektin und Denkmalpflegerin, in Bethlehem geboren, hat in Deutschland studiert und promoviert. 1995 kehrte sie ins Westjordanland zurück und war von 2007 bis 2012 dort Ministerin für Tourismus und Altertümer.

Die Hamas hat seit dem letzten Krieg vor zwei Jahren offenbar ihr Raketenarsenal aufgerüstet. Woher bezieht sie ihre Raketen, wenn der Gazastreifen doch seit Jahren abgeriegelt ist?

Das weiß ich nicht, da müssen Sie die Hamas fragen. Ich vertrete hier die PLO.

Israel beschuldigt die Hamas, hinter der Entführung von drei Jugendlichen aus einer Siedlung bei Hebron im Westjordanland zu stehen, die später ermordet aufgefunden wurden. Was wissen Sie über die Hintergründe des Falls?

Wer die Tat verübt hat ist bis heute ungeklärt. Aber Israel benutzt diese Tat als Vorwand für seine aggressive Politik. 550 Menschen wurden seitdem im Westjordanland verhaftet, viele Häuser durchsucht und zerstört, ganz Hebron stand über Wochen unter Hausarrest. Und schon vor der Entführung der drei jungen Siedler kam es zu Verbrechen der israelischen Besatzungstruppen. Am 15. Mai haben sie zum Beispiel zwei palästinensischen Jungen in den Rücken geschossen, dieser Mord wurde von CNN gefilmt. Allein in den neun Monaten, in denen wir am Verhandlungstisch saßen, wurden 61 Palästinenser von Israel getötet.

Israels Armee behauptet, sie ziele in Gaza nur auf die Infrastruktur der Hamas - auf ihre Waffenlager, Raketenstellungen, ihre Tunnel und die Häuser ihrer Anführer. Außerdem würde sie die Bewohner der Häuser, die sie angreift, vorher warnen. Wie sehen Sie das?

Diese Warnungen sind eine zynische Farce, die diese Angriffe weder beschönigen noch legitimieren. Wenn es überhaupt eine Warnung gibt, dann liegen zwischen dieser und den Bombardierung 58 Sekunden. Welcher Mensch ist in der Lage, in dieser Zeit ein Gebäude zu verlassen? Denken Sie an ältere Menschen, Frauen, Kinder, Babies. Das jüngste Opfer war fünf Monate alt, das älteste über 80 Jahre. Was haben die Kinder, die am Mittwoch am Strand Fußball gespielt haben - Ahad, 11 Jahre alt, Zakaria, 10, Mohammed, 11, Ismail, 9 - getan, um von israelischen Bomben getötet zu werden? Denken sie daran, dass Gaza keine Vorwarnsysteme hat, keine Schutzräume und keine Raketenabwehrsysteme wie Israel.

Die israelische Armee behauptet, sie würde keine Zivilisten angreifen, das sei ein bedauerliches Versehen.

Die Zahlen sprechen doch für sich. 230 Palästinenser, die Mehrheit davon Zivilisten, sind umgekommen. Die haben alle Namen, Gesichter und eine Geschichte. Israel verstößt mit diesen Angriffen gegen alle internationalen Abkommen. Das Ergebnis ist eine hohe Zahl an Todesopfern, die Zerstörung lebensnotwendiger Infrastruktur und eine schwer traumatisierte Bevölkerung.

Das ist auch ein Rückschlag für die Friedensverhandlungen. Noch im April hatte Abbas in Aussicht gestellt, die Hamas sei zu Kompromissen bereit, sie werde Israel anerkennen und auf Gewalt verzichten. Ist das realistisch?

Dass die letzten Friedensverhandlungen unter Leitung von US-Außenminister Kerry gescheitert sind, dafür trägt Israel die Verantwortung. Für die Verhandlungen im Versöhnungsprozess ist die PLO verantwortlich. Unser Ziel ist, Hamas ins politische System zu integrieren und mit Israel einen dauerhaften Frieden zu schließen.

Erst vor sechs Wochen haben Fatah und Hamas eine gemeinsame Regierung gebildet und Neuwahlen angekündigt. Was bleibt davon?

Das ist eine überparteiliche Konsensregierung, die von allen Staaten der Welt mit Ausnahme von Israel begrüßt worden ist. Der innere Aussöhnungsprozess ist für uns von existenzieller Bedeutung und soll fortgesetzt werden. Israel versucht, diesen Prozess zu torpedieren, um von der politischen Lösung abzulenken.

Anders als die Hamas setzt die Fatah auf friedlichen Widerstand, Verhandlungen und internationale Vermittlung. Hat diese Strategie Erfolg gehabt?

Israel hat das bisher nicht honoriert und setzt stattdessen seine Politik des Siedlungsbaus und Landraubs fort. Damit unsere Strategie zum Erfolg führt, muss die Weltgemeinschaft Israel zur Einhaltung internationaler Rechtsnormen zwingen. Und die PLO wird weitere Schritte zur Umsetzung unserer Staatlichkeit auf internationaler Ebene vornehmen.

Die Raketen aus dem Gazastreifen kann man auch so interpretieren, dass zumindest ein Flügel der Hamas keinen Friedensvertrag will. Richtig?

Wenn ein vernünftiger Kompromiss ausgearbeitet wird, dann müssen alle Flügel der Parteien dem auch Folge leisten.

Der deutsche Außenminister Steinmeier ist derzeit in der Region. Was erwarten Sie von Deutschland?

Deutschland spielt eine große Rolle - sowohl in der EU und Weltpolitik. Es soll sich für die Implementierung der Instrumentarien des Völkerrechts und die Bewahrung der unteilbaren Menschenrechte einsetzen.

Welches sind die größten Hürden, die Ihrer Meinung nach einer Zweistaatenlösung im Wege stehen?

Unsere Kernforderungen sind bekannt: klare Grenzen, denn Israel hat seine Grenzen bislang nicht definiert, ein Ende des Siedlungsbaus auf besetztem Gebiet, eine Lösung für Jerusalem, die Flüchtlinge und die Wasserfrage. In diesen Punkten sind wir bisher keinen Zentimeter voran gekommen.

Weil Israel einen anderen Friedensplan hat?

Nein, weil Israel den Status Quo gerne aufrecht erhalten und die Besatzung nicht beenden will. Mit seiner Fortsetzung des Siedlungsbaus macht es jede Möglichkeit einer Zweistaatenlösung auch praktisch unmöglich.

Mit ihren Raketen liefert die Hamas der israelischen Regierung einen Grund, Friedensverhandlungen weiter zu vertagen. Ein Fatah-Mitglied hat den Raketen aus dem Gazastreifen kürzlich als "Verbrechen" bezeichnet. Wie stehen Sie dazu?

Wir sind gegen die Tötung von Zivilisten. Aber wichtiger, als über Begriffe und individuelle Meinungen zu reden ist das Ziel, die aggressive Gewalt der Besatzungsmacht Israel zu beenden.

Sie sind Christin. Haben Sie keine Angst davor, dass die Hamas in einem künftigen Staat zu viel Einfluss bekommt?

Ich bin Palästinenserin. Und ich bin zuversichtlich, dass ein künftiger Staat Palästina ein demokratischer Staat wäre, der den Pluralismus und die bestehende Vielfalt der palästinensischen Gesellschaft respektiert.

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