Jesiden in Deutschland: Das Trauma der Vorfahren

100.000 Jesiden leben in Deutschland. Auf den IS-Terror „war niemand vorbereitet“, sagt Yunus Cengiz. Ein Besuch in einer jesidischen Gemeinde.

Demonstration von Jesiden und Kurden am 16. August gegen den IS in Hannover. Bild: Swen Pförtner/ dpa

OSTERHOLZ-SCHARMBECK taz | Er wollte es ganz genau wissen. Jedes Detail. Und so hat Yunus Cengiz jeden Abend angerufen. Den Schneider, den Händler, und einen der wenigen Christen, die er kannte in Sindschar, der Stadt der Jesiden im Nordirak. Sie haben ihm berichtet von den Zeichen, die die Vorhut der Islamisten an die Häuser schmierte. Von ihren Nachbarn, die sich die schwarze Kluft der Terrororganisation „Islamischer Staat“ (IS) übergezogen haben. Von den Verschleppten und den Geköpften.

Wer kein Auto besaß, hatte keine Chance zur Flucht. Von den Felsen, die die fliehenden Jesiden auf die Straße rollten, um den Mördern den Weg zu versperren. Im Gebirge haben sie an den Autobatterien ihre Handys aufgeladen und Yunus Cengiz beschrieben, wie ihr Wasser zur Neige geht und um sie herum die Menschen starben. Und er sprach mit ihnen, als sie nach elf Tagen endlich in der Stadt Dohuk in Sicherheit waren, mit nichts weiter als schrecklichen Erinnerungen und der Hoffnung auf Hilfe – vielleicht von den Glaubensbrüdern in Deutschland.

Als Cengiz, sechs Kinder, Kfz-Meister bei Mercedes, Zeuge eines Völkermordes wurde, saß er in seinem blitzsauberen Einfamilienhaus mit kupferner Dachrinne, roten Klinkern und weißen Fugen. „Darauf war hier niemand vorbereitet. Wir sind doch ganz normale, kleine Gemeinden“, sagt er. Er trägt Schnurrbart, braune Locken und hat eine weiche Stimme, ein ruhiger Mann. Aber in diesen Tagen reicht ein Stichwort und alles kommt aus ihm heraus: die letzten Wochen, die letzten Generationen, die letzten Jahrtausende. „Was willst du wissen?“, fragt Cengiz. „Ich erzähle dir alles.“

Er läuft in den Schuppen, um die Gartenstühle doch noch einmal herauszuholen. Über der Terrasse hängt ein halbfertiges Dachgerüst, sie wollten im Sommer hier im Schatten sitzen, doch zum Bauen blieb keine Zeit. Cengiz ist Vorsitzender der jesidischen Gemeinde in Osterholz-Scharmbeck in der Nähe von Bremen. An diesem Tag ist er 41 geworden, aber als seine Frau nach dem Essen in der Küche die Torte auf den Tisch stellt, winkt er ab. Seine Familie stammt aus Midyat in der Südtürkei, viermal wurde sie in zwei Generationen vertrieben, er schnippt mit den Fingern über der Tischkante in alle Richtungen, „es ist wie ein Murmelspiel“, sagt er „nach Syrien, Irak, zurück in die Türkei, Syrien, immer hin und her.“ Das sei jetzt der „74. Genozid an den Jesiden, seit dem 11. Jahrhundert“.

Es ist eine monotheistische Religion, ihre Wurzeln reichen Jahrtausende zurück. Sie ist vom Islam, Christentum und Judentum unabhängig, es gibt aber Berührungspunkte mit dem Alten Testament. Die Vorstellungen werden mündlich überliefert, eine heilige Schrift existiert nicht. Die Jesiden glauben an einen allmächtigen Gott und sieben Engel, der wichtigste, "Tausi Melek", wird von einem Pfau symbolisiert. Es existiert keine Vorstellung einer bösen Macht, weil dies die Allmächtigkeit Gottes unterlaufen würde. Die Jesiden haben keine Kirchen und feiern keine Messen; die Geistlichen suchen die Gläubigen zu Hause auf. "Gott, schütze die 72 Völker und darunter uns", beten die Jesiden jeden Morgen zur Sonne.

Doppelt verfolgt

Eine Million Angehörige hat die religiöse Minderheit der Kurden, die Hälfte im Nahen Osten, die andere Hälfte über die Welt verstreut. Knapp 100.000 leben in Deutschland. 1987 kam die Familie von Cengiz hierher, die Spannungen in der Türkei hatten mal wieder zugenommen. „Wir wussten, wir können nie wieder dahin zurück.“ Die Geschichte der Jesiden sei „die Geschichte von Unterdrückung und Zwangsislamisierung“, erklärt Cengiz. „Von Türken, Arabern und Persern wurden wir unterdrückt, weil wir Kurden sind. Und von den Muslimen, weil sie uns für ungläubig halten.“

Seine Familie bekam damals schnell Asyl, das ist heute schwieriger. Ostsyrien und der Nordirak sind die Hauptsiedlungsregionen der Jesiden, ein Gebiet, zwei Kriege. „Die Mitglieder unserer Gemeinde haben 600 Anträge auf Familienzusammenführung aus Syrien gestellt. Kein einziger ist durchgekommen“, sagt Cengiz.

Und jetzt Irak. Letzte Woche hat Amnesty International bestätigt: Die IS will die Jesiden ausrotten. Cengiz’ Wohnung ist zur Geschäftsstelle der Bemühungen um Hilfe geworden. An den Abenden kommen die Besucher, im Wohnzimmer brüllen Menschen ins Telefon, die Verbindung in den Irak ist schlecht. Sein Bruder öffnet die Tür, sie wechseln einige Worte auf Kurdisch. Yunus Cengiz nickt ihm zu. Am nächsten Morgen wird er mit einigen anderen in den Irak fliegen. „Sie werden Geld hinbringen. Aber vor allem sollen sie herausfinden, was gebraucht wird.“ Bald kommt der Winter.

Nach dem Einmarsch der IS in Sindschar im August organisierten die Jesiden eine Demonstration in Bielefeld, am Abend versammelten sich alle Gemeindevertreter. „Wir haben eine Task Force gewählt“, sagt Cengiz. Wirtschaftsminister Sigmar Gabriel hatte sie eingeladen, und in Bielefeld erarbeiteten sie ihre Forderungen: eine Schutzzone, humanitäre Hilfe, Waffenlieferungen mit Garantien für die Minderheiten, Aufnahme von Flüchtlingen. Das Treffen zwischen dem Minister und den Jesiden am 12. August gilt als Wendepunkt in der Debatte um Militärhilfe.

Am Nachmittag seines Geburtstags hat Cengiz die Bundestagsdebatte im Fernsehen verfolgt. „Die deutsche Politik hat schon auf uns gehört“, meint er. Letztlich aber gebe es nur eine Lösung – „eine UN-Schutzzone“. Das gewählte geistliche Oberhaupt der Jesiden, der Baba Sheikh, hat seine Residenz im heiligen Ort Lalisch im Nordirak – nur etwa 50 Kilometer entfernt von der Frontlinie der Dschihadisten. „Wenn sie dort einfallen, ist das unser Ende“, sagt Cengiz. „Dann wird es auch ein kultureller Genozid.“

Jeside wird man durch Geburt

Genozid – immer wieder kommt Cengiz darauf zu sprechen. Einst waren alle Kurden Jesiden, heute sind es nur noch gut zwei Prozent. „Zwangsislamisierung“, sagt er. Jeside wird man nur durch Geburt, Konvertierung ist unmöglich, Missionierung ebenfalls. Ihre Gesellschaft ist ein kompliziertes System fester Erbklassen: Sheickhs, Pire (Ältere) und Murids (Laien). Jeder Murid ist einem Scheich und einem Pir zugeordnet. Diese müssen Zeremonien durchführen und Streits schlichten. „Wir gehen nicht gern zum Gericht, wir regeln das untereinander“, erklärt Cengiz. Heiraten dürfen die Jesiden nur innerhalb ihrer Erbklassen. „Sonst verlässt man die Religion.“ Scheidungen seien erlaubt, „natürlich“, die Frage entrüstet ihn. Die Jesiden rühmen sich einer gewissen Liberalität.

Das Familienregime ist dennoch überaus strikt. „Die Muslime sehen es als ihre religiöse Pflicht, uns vor der Hölle zu schützen. Wer eine jesidische Frau zu Allah bringt, wird als Held gefeiert“, sagt Yunus. Deshalb gebe es auch viele Verschleppungen von Frauen durch den IS. „Wenn wir zulassen, dass die Muslime unsere Frauen rechtmäßig heiraten, gibt es uns in wenigen Jahren nicht mehr.“ Natürlich gebe es aber genug, „die das nicht mitmachen“.

Respekt für die Alten

Ceylan Guli gehört nicht zu denen. Am Abend sitzt sie mit am Tisch in Cengiz’ Küche und berichtet von ihren Gemeindeaktivitäten, und am nächsten Tag, in Bremen, erzählt die 20-Jährige von ihrem Leben mit einer Religion, über die kaum jemand etwas weiß. Sie trägt das schwarze Haar zusammengebunden, der Ärmel der türkisen Bluse ist hochgekrempelt, so dass am Handgelenk das rote Band zu sehen ist, das die Jesiden sich an ihrem wichtigsten Feiertag schenken. Oft vermeidet sie allerdings, sich als Jesidin zu erkennen zu geben. „Wir halten uns bedeckt.“

Ceylan Guli ist eine Sheikh. 2010 lernte sie Amer, einen jungen Sheikh aus der Gemeinde von Yunus Cengiz auf einer jesidischen Hochzeit kennen. Sie heirateten, zogen nach Bremen. Heute ist sie mit Cengiz im Vorstand der Osterholzer Gemeinde und studiert Kulturwissenschaften in Bremen. „Ich habe mir an meinen Großeltern und Eltern ein Beispiel genommen“, sagt sie, so schnell, als sei ihr die Frage schon oft gestellt worden. „Die sind damit ja auch zurechtgekommen.“ Einen nichtjesidischen Freund habe sie nie gehabt.

„Die Lebensart, die wir ausstrahlen, sagt schon: Bei uns geht es nur freundschaftlich.“ Andere jesidische Mädchen würden es anders halten, „das ist Familiensache, da hat sich keiner einzumischen.“ Viele, die sich gegen eine jesidische Beziehung entscheiden, „bekommen nach einiger Zeit Heimweh, die wollen dann zurück“, sagt Guli. An der strikten Heiratsregel aber führe kein Weg vorbei: „Wir müssen uns vor den Muslimen schützen.“

Auch in Deutschland, glaubt sie, gehe „der Trend zur Islamisierung“: Immer mehr Mädchen tragen Kopftuch. „Mich sehen sie im Supermarkt schon komisch an, weil ich orientalisch aussehe, aber keine Kopftuch trage.“ Muslime würden sie als „Teufelsanbeter“ beschimpfen oder „spotten, dass wir einen Pfau anbeten“. Jungen Männern mit langem Bart geht Guli aus dem Weg. Vor wenigen Wochen haben islamistische Jugendliche in Herford eine Gruppe von Jesiden überfallen. „Das hat zugenommen“, sagt sie. „Hassprediger wie Pierre Vogel, die auf öffentlichen Plätzen sprechen – ich verstehe nicht, warum da niemand einschreitet.“ Jungen Salafisten sollte Deutschland „die Pässe wegnehmen“.

Die jungen Jesiden der zweiten und dritten Generation würden mit einer „Sozialisation leben, die gar nicht unsere ist“, sagt Guli. „Wir tragen das Trauma unserer Vorfahren in uns“ – die Angst vor der Vernichtung. „Wenn es dunkel wird, dann sagen wir immer: Lass uns mal nach Hause gehen, bevor etwas passiert.“ Die Spannung zwischen ihrem modernen Leben und den für viele Deutsche kaum nachvollziehbaren Vorschriften auszuhalten, sei „auch eine Frage von Respekt gegenüber den Alten, die für die Traditionen eingestanden sind, damit es uns noch gibt“, sagt Guli.

Aber eben nicht nur eine Frage von Respekt: „Ich will Tradition, auf jeden Fall, aber natürlich soll mein Leben nicht einfach so sein wie das früher.“ In den letzten zwei Jahrzehnten habe sich bei den Jesiden in Deutschland viel gewandelt. „Gebt uns noch ein bisschen Zeit“, sagt Ceylan Guli. „Manche Dinge lassen sich nicht von heute auf morgen ändern.“

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