Polizei interpretiert Berliner Linie neu

■ Ein seit fünf Jahren besetztes Haus wurde überraschend geräumt. Begründung: Das Haus hätte kurz leergestanden

Zwei Monate nach dem Amtsantritt von Innensenator Jörg Schönbohm (CDU) wurde gestern das besetzte Haus Palisadenstraße 49 in Friedrichshain geräumt. Das Gebäude war seit fünf Jahren besetzt und fiel damit unter die Berliner Linie, derzufolge nur Neubesetzungen geräumt werden dürfen. Häuser, die länger als ein Jahr besetzt sind, gelten dagegen als geduldet. Erst vor kurzem hatte Innensenator Schönbohm versprochen, daß die Berliner Linie auch für ihn geltend sei.

Daß die Polizei dennoch zur Räumung schritt, begründete der Einsatzleiter vor Ort gestern mit einer Anzeige des Hauseigentümers Peter Hellmich. Unter Hinweis auf eine Information der Kripo behauptete der Inhaber einer Sanitätsfirma, daß das Gebäude im Februar dieses Jahres leergestanden habe und demzufolge von einer Neubesetzung auszugehen sei.

Die Bewohner der Palisadenstraße bezeichneten die Behauptung, das Haus verlassen zu haben, gestern als glatte Lüge. Auch Birgit Wendel, eine Mitarbeiterin der Mieterberatung in der Karl-Marx- Allee, bestätigte, daß das Haus durchgängig bewohnt gewesen sei. Dennoch schloß sich der Einsatzleiter der Polizei der „Rechtsauffassung“ des Eigentümers an. Er ließ das Gebäude räumen und leitete gegen 15 Personen ein Verfahren wegen Hausfriedensbruchs ein. Zwei Personen wurden vorläufig festgenommen, weil sie angeblich die Straße blockiert hätten.

Entgegen den ersten Versprechungen der Polizei durften die Besetzer nach Feststellung ihrer Personalien nicht zurück in ihre Wohnungen, um persönliche Wertsachen aus den Räumen zu tragen. Statt dessen transportierten eigens bestellte Möbelwagen einige Gegenstände ab. Später warfen Hellmichs Bauarbeiter das Hab und Gut der Besetzer aus einem Fenster des zweiten Stocks, ohne daß die Polizei eingegriffen hätte.

„Für die einen sind es Möbel, für die anderen Sperrmüll“, begründete der Einsatzleiter das Verhalten seiner Beamten. Die Polizei schritt auch nicht ein, als die Bauarbeiter begannen, die Fensterkreuze herauszuhebeln und die Wohnungen unbewohnbar zu machen.

Mit der gestrigen Räumung hatte Hellmich beim zweiten Anlauf gegen die ungeliebten Besetzer Erfolg, ohne daß er eine Räumungsklage beim Amtsgericht anstreben mußte. Bereits im Juni 1994 hatte der Eigentümer – ein halbes Jahr, nachdem er das Gebäude gekauft hatte – einen Bauarbeitertrupp angeheuert, um die Besetzer zu räumen. Die Staatsanwaltschaft hatte daraufhin die Ermittlungen gegen den Eigentümer aufgenommen. Vor einigen Wochen hatte Hellmich den Besetzern daraufhin Verhandlungen angeboten, kurze Zeit später aber das Wasser abstellen lassen.

In einem ähnlichen Fall wie der gestrigen Räumung der Palisadenstraße hatte das Berliner Verwaltungsgericht vor einem Jahr den Polizeieinsatz für widerrechtlich erklärt. In der Linienstraße 158 in Mitte hatte die Polizei im Auftrag des Eigentümers das Gebäude mit der Begründung geräumt, keiner der anwesenden Personen wäre dort gemeldet.

Auf einem Flugblatt sprachen die Besetzer der Palisadenstraße gestern von einer „guten Zusammenarbeit“ von Innensenator Schönbohm, dem Einsatzleiter und dem „Spekulanten“ Hellmich und demonstrierten noch am Abend am Frankfurter Tor. Uwe Rada/Torsten Teichmann