Kommentar Politaktion zum Mauerfall: Mauertote versus Frontexopfer

Die Umdeutung der Gedenkkreuze ist keineswegs zynisch: Sie ist nötig, damit das deutsche Erinnerungstheater nicht zur bloßen Selbstvergewisserung wird.

Flüchtlinge in einem Auffanglager vor Melilla, an der EU-Außengrenze. Bild: Patryk Witt/Zentrum für Politische Schönheit

Ich habe größtes Verständnis für die Situation der afrikanischen Flüchtlinge, aber. Es ist prinzipiell wichtig, auf das Schicksal der Flüchtlinge an den europäischen Grenzen hinzuweisen, aber. Wir müssen diesen Menschen helfen, aber.

Es gibt sehr starke Sätze, die, leider, immer wieder viel zu früh beendet werden. Oft enden sie eigentlich schon mit dem Wörtchen aber, auch wenn danach noch andere Wörter folgen. Aber, das kann einen Unwillen markieren, oder, was schlimmer ist, ein gesellschaftliches Tabu: Es hinterlässt eine Leerstelle. In der Debatte über den Gedenktafeltransport im Regierungsviertel ist Letzteres der Fall: Es gibt ein Tabu des Gedenkens.

Während Flüchtlingsinitiativen die politische Aktionskunst am Montag zwar feierten, gab es unter Opferverbänden, Gedenkinstitutionen und früheren DDR-Bürgerrechtlern eine weitgehend einhellige Reaktion auf die Umnutzung der Gedenkkreuze für die Mauertoten. Diese Reaktion lautet: Die Opfer von damals dürfen nicht für politische Zwecke von heute missbraucht werden.

In dieser prinzipiell richtigen Feststellung sind sich viele einig. Der Hohn jedoch ist: Diese Einigkeit – oder sagen wir vielleicht: Einheit – wird von all jenen am lautesten beschworen, denen zuvor selbst nicht aufgefallen wäre, dass ihre Gedenksymbole überhaupt abtransportiert wurden.

Die Verantwortung zählt

Es gibt zweifellos gute Gründe, Orte des Gedenkens nicht dem Zynismus zu überlassen: Es wäre zynisch, die Mauertoten, die an der innerdeutschen Grenze infolge des Schießbefehls ermordet wurden, mit jenen Menschen zu vergleichen, die an der Außengrenze Europas heute auf ein Leben in Würde hoffen. Es gibt dort zwar selbstsprühende Pfeffersprayvorrichtungen, aber immerhin keinen Schießbefehl.

Es ist hingegen überhaupt nicht zynisch, mit symbolpolitischen Maßnahmen auf die humanitäre Dimension hinzuweisen, die vor den Außengrenzen Europas ihren durchaus katastrophalen Lauf nimmt. Es braucht, natürlich, eine Provokation, damit die kulturelle Zeremonie des deutschen Erinnerungstheaters, die in den kommenden Tagen wieder ansteht, nicht zur bloßen Selbstvergewisserung wird.

Und ist nicht die letzte Frage jedes Gedenkens: Welche Verantwortung erwächst aus der Geschichte für uns? Debatten über das kulturelle Gedenken anzustoßen, steht nicht unter Monopolvorbehalt. Wir stehen in der Verantwortung: Kein aber.

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