Filmstart „Timbuktu“: Reine Unschuld gibt es nicht

Auch Islamisten können ambivalent sein: In „Timbuktu“ entwickelt Abderrahmane Sissako eine stille Ästhetik des Widerstands.

Wahrnehmung geschärft: Szene aus „Timbuktu“. Bild: Verleih

Fast lautlos springt zu Filmbeginn eine schlanke, elegante, dank vieler tausend Jahre evolutionärer Anpassung kaum von ihrer Umwelt zu unterscheidende Gazelle durch die Sanddünen. Dann knallen Schüsse in das Bild, ein Schnitt auf die Jäger zeigt zunächst, hart gegen die warmen Farben des Hintergrunds konturiert, jene schwarze Fahne, die seit einigen Monaten in Zeitung und Fernsehen allgegenwärtig ist als Symbol des militanten Islamismus.

Die Fahne ist auf einem Geländewagen montiert, die Männer im Jeep scheinen sich einen Spaß zu machen mit dem fliehenden Tier: „Tötet es nicht, lasst es lieber müde werden!“, ruft einer.

„Timbuktu“ geht von einem hochaktuellen Konflikt aus: Die titelgebende malische Stadt war 2012 in die Gewalt islamistischer Rebellen geraten; einige Monate später konnte sie zwar von Regierungstruppen (mit französischer Unterstützung) befreit werden, aber der Konflikt schwelt weiter.

Der Regisseur Abderrahmane Sissako hat aus der zeithistorischen Episode keinen Bürgerkriegsfilm gemacht, auch keinen Politthriller, sondern eine vielstimmige Allegorie, die von der langsamen Ermüdung einer Gesellschaft erzählt. „Timbuktu“ entwirft dabei kein aktivistisches Gegenprogramm gegen den radikalen Islam, gibt keine Handlungsanweisungen, die man lediglich korrekt umzusetzen bräuchte, damit alles wieder gut wird.

„Timbuktu“. Regie: Abderrahmane Sissako. Mit Ibrahim Ahmed, Toulou Kiki. Frankreich/Mauretanien 2014, 96 Min.

Die Gazelle springt, wohin sie will

Allerdings fühlt sich der Film längst nicht so pessimistisch an, wie man nach einer Inhaltsangabe vermuten könnte. Das dürfte daran liegen, dass Sissakos Kino nicht auf die politische Tat, sondern auf die Schärfung der Wahrnehmung zielt: Im grandiosen Vorgänger „Bamako“ wurde in einem afrikanischen Dorf ein fiktiver Prozess gegen die Weltbank angestrengt – viel wichtiger aber war dem Film das Alltagsleben, das sich um den improvisierten Gerichtshof herum entfaltete und das sich mit dem Vokabular neoliberaler Bürokraten radikal inkompatibel erwies.

Auf ähnliche Weise insistiert „Timbuktu“ darauf, dass das Leben, das soziale wie das natürliche, sich niemals widerstandslos den rigiden Regelsystemen der Islamisten fügen wird; dass es, wenn man nur genau genug hinschaut (oder hinhört, auf die durch die Gassen schallende verbotene Musik zum Beispiel, deren Ursprung der Islamic Police lange Zeit verborgen bleibt), immer und überall Wege finden wird, sich zu entfalten – auch die Gazelle, die zu Beginn von den Männern im Jeep gejagt wird, taucht am Filmende noch einmal auf: Sie lebt noch, springt weiter, wohin sie will.

Aus solchen Beobachtungen entwickelt Sissako eine Ästhetik des Widerstands im Kleinen: Mal läuft einfach nur eine Esel stur durchs Bild und lässt die Scharia Scharia sein, mal formen sich kleine Geschichten, zum Beispiel die einer Fischhändlerin, die sich weigert, die von den neuen Herrschern vorgeschriebenen Handschuhe zu tragen, oder die eines Mädchens, das von der Miliz zwangsverheiratet wird.

In der den sozialen Normen gemäß verrückten – aber von Sissakos Kamera glamourös wie ein Hollywoodstar inszenierten – Zabou, die in knallbunten Kleidern durch die Straßen läuft und sich den Besatzern spöttisch lächelnd entgegenstellt, kristallisiert sich der poetisch-politische Einsatz des Films besonders eindrücklich: Auf diese notorische, quicklebendige Querulantin, die auch schon vor ihrem Eintreffen eine Ausgestoßene war, wissen die Dschihadisten keine Antwort.

Repräsentant jener Moderne, die er zu bekämpfen vorgibt

Die Islamisten selbst bleiben nicht die tumben Jungs mit den Gewehren, als die sie Anfangs in den Film einfahren. Schnell offenbaren sich Ambivalenzen, nicht aufhebbare Widersprüche: Fußball ist verboten, aber Messi trotzdem besser als Zidane, Zigaretten sind erst recht verboten, aber sie schmecken. Schön eine Szene, in der ein junger Rekrut, der in seinem vorherigen, bürgerlichen Leben anscheinend ein Rapper war, ein forsches Bekenntnisvideo aufnehmen soll, aber immer wieder nervös und unsicher den Blick senkt: Die vermeintliche göttliche Ordnung, die sie der Gesellschaft aufzwingen zu versuchen, erlebt auch jeder Einzelne der Dschihadisten als persönliche Beengung.

Oder, noch beziehungsreicher, eine andere Szene, in der Abdelkrim, der Anführer der Milizen, die mit ihrem Mann Kidane und der gemeinsamen Tochter Toya in einem Zelt außerhalb der Stadt lebende Beduinin Satima besucht. In seinem Blick auf die ihr Haar offen tragende Frau offenbart sich nicht nur sexuelles Begehren, sondern auch eine Sehnsucht nach dem traditionsbewussten, aber friedlichen Leben, das Fatima und die Ihren zu führen scheinen. In diesem Moment erscheint Abdelkrim selbst wie ein Repräsentant jener Moderne, die er zu bekämpfen vorgibt.

Ein kluger Film ist „Timbuktu“ nicht zuletzt deswegen, weil der am ausführlichsten ausgearbeitete Handlungsstrang, die Geschichte der Beduinenfamilie, zu den politischen Fronten quer steht und klarmacht, dass Sissako keineswegs auf das Ideal einer unverdorbenen Ursprünglichkeit hinaus will. Da mögen die bunten Zeltplanen und Gewänder der Beduinen sich auch noch so harmonisch in die malerischen Naturpanoramen einfügen, da mag Kidanes melancholischer Gesang auch noch so lieblich in die Geräuschkulisse der Natur übergehen: Reine Unschuld gibt es in dem Film nicht.

In Kidane lodert eine unversöhnliche Wut, in dem Zelt ist eine Pistole versteckt. Das tragische Schicksal des Familienvaters lässt sich nicht so ohne weiteres zur nationalen Allegorie hochrechnen: Zur Waffe greift er nicht wegen der Islamisten, sondern aus verletzter Eitelkeit.

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