Der Horizont ist offen

Die aktualisierte Neuauflage des Sammelbandes von Wolfgang Benz zur Vertreibung der Deutschen ist nicht auf der Höhe der Zeit  ■ Von Christian Semler

Die aktualisierte Neuauflage des 1985 erstmals erschienenen, von Wolfgang Benz herausgegebenen Sammelbandes „Die Vertreibung der Deutschen aus dem Osten“ zwingt förmlich dazu, sich über die Veränderung des Erfahrungsraums wie des Erwartungshorizonts zur „Flüchtlingsproblematik“ während der letzten zehn Jahre Rechenschaft abzulegen.

Benz' damaliges Unternehmen war gegen ein befürchtetes Rollback der Regierung Kohl in der Ostpolitik gerichtet und wählte das Motto der schlesischen Landsmannschaft „Schlesien bleibt unser“ von 1985 zum unmittelbaren Angriffsziel. Es verfolgte entmystifizierend-aufklärerische Absichten, indem es die Vorgeschichte von Flucht und Vertreibung, insbesondere die Ablehnung des tschechoslowakischen Staates der Zwischenkriegszeit durch große Teile der Sudetendeutschen und die unwandelbar revanchistische Politik aller Weimarer Regierungen gegenüber dem polnischen Staat ins Blickfeld rückte und an die nazistischen Massenvertreibungen, Umsiedlungen und Neuordnungspläne („Generalplan Ost“) erinnerte. Der Nachweis wurde geführt, daß die Ausweisung der Deutschen aus den ehemaligen Ostgebieten des Deutschen Reiches, aus der Tschechoslowakei und Ungarn schon frühzeitig auch im Lager der westlichen Alliierten ins Auge gefaßt wurde, mithin keineswegs nur ein Produkt Stalinscher „Geopolitik“ gewesen war.

Implizit enthielt Benz' Aufsatzsammlung auch einen Appell an die Linke. Die kritischen LeserInnen wurden mit dem „subjektiven Faktor“ konfrontiert, mit Erzählungen von Flucht und Vertreibung. Nicht, daß es an der Dokumentation von Vertriebenenschicksalen bis dahin gemangelt hätte – Theodor Schieder, Martin Broszat und andere hatten im Auftrag der Bonner Regierung schon während der sechziger Jahre ein mehrbändiges, sorgfältig ediertes Werk mit Erlebnisberichten vorgelegt.

Allein, es wurde von der linken Publizistik nicht angemessen, nicht gerecht gewürdigt. Das hatte politische wie kulturelle Ursachen. Der Tendenz nach identifizierten die Linken Flüchtlinge wie Vertriebene mit den revanchistischen Positionen der Landsmannschafts- Bürokratien. Die Meinung herrschte vor, die Vertriebenen wären an ihrem Schicksal selber schuld. Hatten sich nicht die Sudetendeutschen in den dreißiger Jahren Hitler an den Hals geworfen und die Tschechoslowakei, den einzigen übriggebliebenen demokratischen Staat Mitteleuropas, mutwillig zerstört? Und hatte nicht die Nazipartei in Ostpreußen wie in Danzig überwältigende Wahlsiege errungen? Die verkappte Kollektivschuldthese wurde von der Angst verschärft, den Antikommunisten zuzuarbeiten, wenn man die Wahrheit aussprach.

War es angesichts der schroffen Auseinandersetzungen über die sozialliberale Ostpolitik wirklich opportun, die Massenvergewaltigungen durch russische Soldaten in Ostpreußen als Tatsache anzuerkennen, ließ man sich damit nicht auf das Spiel der Aufrechnungen ein, das von den Rechten so virtuos gehandhabt wurde?

Indem die von Benz versammelten Autoren dieser Gefühlslage nicht nachgaben, bereiteten sie einer allmählichen Änderung der Maßstäbe, auch in der linken Publizistik, den Weg. Die 1990 erschienene, bewegende Sammlung von Interviews Halina Wagnerowas, „1945 waren sie Kinder“ (in der Peter Glotz aus Cheb ganz ungewohnt selbstkritische Töne anschlägt), bezeugt diesen Umschwung.

Ausschlaggebend waren hier freilich zwei andere Faktoren: die endgültige Anerkennung der Oder-Neiße-Grenze durch das vereinte Deutschland samt ihren entlastenden Wirkungen und die emotionale Erschütterung im Gefolge der neuen Massenvertreibungen, vor allem im ehemaligen Jugoslawien. Es macht die Schwäche der Benzschen Neuedition aus, daß sie sich nicht auf Augenhöhe mit der Problemlage bewegt, die uns seit 1990 umtreibt. Für die Geschichte von Flucht und Vertreibung aus den ehemals deutschen Ostgebieten haben sich durch die demokratische Wende in Polen wie durch die deutsche Vereinigung völlig neue Wege eröffnet. Erstmals war es möglich, die Archive in der Ex-DDR durchzuforsten und die Methoden der Oral history einzusetzen, um die Schicksale der in der DDR schamhaft „Umsiedler“ Genannten zu dokumentieren und sie mit denen in der alten Bundesrepublik zu vergleichen. Von Plato/Meinecke machten den Anfang, viele Forschungsvorhaben sind unterwegs. Von all dem, außer ein paar Literaturangaben, kein Wort bei Benz. Wichtiger noch, daß das Beziehungsgeflecht zwischen den Regierungen Polens und Deutschlands, der jetzt anerkannten deutschen Minderheit, den Vertriebenenverbänden, den neu entstandenen gesellschaftlichen und wissenschaftlichen Initiativen, schließlich der öffentlichen Meinung in beiden Ländern völlig unerörtert bleibt.

Sind die deutschstämmigen Oppelner Schlesier heute nützliche Idioten in der Hand der schlesischen Landsmannschafts-Führer oder bilden sich nicht vielmehr zwischen den Vertriebenen (beziehungsweise deren Kindern) und den in Polen Gebliebenen neue Strukturen, die sich positiv auf das deutsch-polnische Verhältnis auswirken könnten? Wie sind die Stiftungen, wie die Begegnungsstätten zu beurteilen, an deren Einrichtung Vertriebene, zum Beispiel Christian Graf von Krockow, maßgeblich beteiligt sind? Was läuft außer Gruselgeschichten über neonazistische Wühlarbeit im Kaliningrader Oblast, dem ehemaligen nördlichen Ostpreußen? Keine Antwort.

Am schwerwiegendsten scheint mir der Verzicht, in der Neuauflage Autoren aus Polen und der tschechischen Republik zum Thema Flucht und Vertreibung das Wort zu geben. Dafür gibt es nur eine Erklärung: Paternalismus. Ende 1993 versammelten sich in Poznan polnische und deutsche Wissenschaftler zu einer kontroversen Diskussion. Schon damals überraschte der Gesinnungswandel einst strikt nationalistisch argumentierender Polen, etwa aus dem Bannkreis des Poznaner Westinstituts. Dezember 1994 fand in Gubin ein von der Deutsch-Polnischen Gesellschaft Brandenburg und dem Journalistenklub „Pod-Stereo-Typami“ veranstaltetes Seminar statt, dessen Ergebnisse in der Zeitschrift Transodra zweisprachig dokumentiert worden sind. Die polnischen Forschungsergebnisse unterstreichen jenseits ihres wissenschaftlichen Ertrags die moralische Sensibilisierung der jüngeren Wissenschaftlergeneration in der „Vertreibungsfrage“, ihren Optimismus hinsichtlich eines zukünftigen freundschaftlichen Miteinanders. An potentiellen Autoren kann es nicht gelegen haben.

Unverzeihlich auch, daß dem hervorragenden Aufsatz von Eva Schmidt-Hartmann aus der Erstauflage zur Vertreibung der Deutschen aus tschechischer Sicht jetzt kein tschechischer Aufsatz zur Seite gestellt wurde. Gerade die Verhärtung des deutsch-tschechischen Verhältnisses, Frucht der Halsstarrigkeit der sudetendeutschen Landsmannschaft und der (auf sie folgenden) Demagogie tschechischer Nationalisten, hätte gebieterisch nach dem Blick von jenseits des Böhmerwalds auf die Niederungen der deutschen Politik verlangt. Aber Ergebnis einer solchen Analyse von tschechischer Seite wäre auch gewesen, daß die sudetendeutschen Vertriebenen keinen ehernen, revanchistischen Block darstellen, daß es wichtige – konfessionelle wie laizistische – Vereinigungen gibt, denen der ewige Streit um Beneš und Henlein zum Hals heraushängt, daß viele der Vertriebenen und ihre Kinder entdecken, wie nahe die Deutsch-Böhmen und die Tschechen sich in ihrer Lebensart eigentlich waren und sind.

All diese Versäumnisse sind deshalb so traurig, weil (nicht erst) die „jugoslawische Erfahrung“ lehrt, daß ethnische Konflikte nicht naturwüchsig entstehen, sondern „gemacht“ werden, daß wir dem nationalistischen Irrsinn nicht hilflos ausgeliefert sind. Im Verhältnis zu Polen, Tschechen, Slowaken und Ungarn ist der Horizont nach wie vor offen, wir müssen nur handeln, die historische Konjunktur nutzen – durch Freundschaften, Initiativen, durch publizistische, durch wissenschaftliche Arbeit. Gemessen an dieser Pflicht ist die Neuauflage der Benzschen Arbeit eine Reminiszenz an die Kämpfe der achtziger Jahre – leider nicht mehr.

Wolfgang Benz (Hrsg.): „Die Vertreibung der Deutschen aus dem Osten. Ursachen, Ereignisse, Folgen“. Fischer, 302 S., 16,90 Mark