■ Zum Aufruf „8. Mai 1945 – Gegen das Vergessen“
: Strategen der Retourkutsche

Der vom geistigen Stoßtrupp der „selbstbewußten Nation“ um Rainer Zitelmann, Karlheinz Weißmann, Heimo Schwilk und Ulrich Schacht formulierte Aufruf zum 8. Mai 1945 zeigt exemplarisch die propagandistische Vorgehensweise der Neuen Rechten. Der Aufruf fällt nicht so sehr durch das auf, was darin steht – denn es steht kaum etwas darin –, als vielmehr durch die kunstvoll verdruckste Art und Weise, wie dort Provokatives angedeutet, aber nicht offen ausgesprochen wird. Während die plakative Parole eine skandalträchtige Umwertung der symbolischen Bedeutung des 8. Mai erwarten läßt, kommt die darunterstehende Erklärung im Gestus ausgewogener Bedenklichkeit daher. Daß der 8. Mai – auch – ein Tag der Befreiung gewesen sei, wird nicht offen bestritten, aber auch nicht explizit zugegeben: Das Wort „Befreiung“ kommt im Text nur einmal vor – als Zitat, in Anführungszeichen. Kein Hammerschlag, nur ein Nadelstich in die empfindliche Stelle des antinazistischen Konsenses: Er soll schmerzhafte Aufschreie provozieren, deren Berechtigung sich aber anhand der konkreten Formulierung im Text schwer nachweisen läßt. Die jungrechten Strategen wollen die zu ihrem Feindbild erhobene Phalanx aus Linken, Liberalen und liberalistisch angekränkelten Christdemokraten zu hysterischen Reaktionen reizen und sie zugleich ins Leere laufen lassen.

Die Unterschriften-Kampagnenpolitik spekuliert auf den antifaschistischen Reflex in Teilen der linken und linksliberalen Öffentlichkeit, den die Rechte braucht, um sich selbst immer wieder ihrer Gefährlichkeit für den verhaßten liberalen Grundkonsens der Bundesrepublik zu versichern. Die wichtigtuerische Selbstinszenierung soll die Tatsache überspielen, daß sie zur Erhellung historischer Zusammenhänge nichts beizutragen hat. „Einseitig“, so heißt es im Aufruf, werde der 8. Mai „von Medien und Politikern als ,Befreiung‘ charaktierisiert“. Dabei drohe „in Vergessenheit zu geraten, daß dieser Tag nicht nur das Ende der nationalsozialistischen Schreckensherrschaft bedeutete, sondern zugleich auch den Beginn von Vertreibungsterror und neuer Unterdrückung im Osten und den Beginn der Teilung unseres Landes“. Diese Behauptungen sind keine bloßen „Selbstverständlichkeiten“ (so Thomas Schmid in der „Wochenpost“), sie sind in allen ihren Teilen unrichtig. Medien und Politiker gedachten soeben erst mit großem Aplomb der Bombardierung Dresdens, und schon Ende des vergangenen Jahres waren alle führenden Zeitungen voll mit Dokumentationen über den sowjetischen Terror gegen die Zivilbevölkerung im deutschen Osten. Der „Vertreibungsterror“ im Osten hatte schon vor dem 8. Mai eingesetzt, und Pläne zur Aufteilung Deutschlands lagen längst in allen Variationen vor.

An historischer Genauigkeit sind die neurechten Gesinnungsethiker aber uninteressiert. Die Neue Rechte will suggerieren, sie sei im Besitz unbequemer „Wahrheiten“, die von einer herrschenden linksliberalen Gesinnungsdiktatur „verschwiegen, verdrängt oder relativiert“ würden. Die Wortwahl zeigt, daß sich das rhetorische Rüstzeug der neurechten Propaganda im wesentlichen auf Retourkutschen beschränkt. Daß sie die Wahrheit über den Nationalsozialismus vergessen machen oder relativieren wollten, ist der Standardvorwurf gegen die neokonservative Historikerschule um Ernst Nolte. Die Rechte dreht den Spieß einfach um. Die Aufruf-Parole „Gegen das Vergessen“ imitiert die Appelle antifaschistischer Komitees, über großdeutschem Vereinigungstaumel die Opfer deutscher Vernichtungspolitik nicht zu vergessen. Die Neue Rechte ahmt die Selbststilisierung der Linken zu ewig unterdrückten Warnern und Mahnern nach, weil sie glaubt, darin deren Erfolgsgeheimnis entdeckt zu haben. Auf diese Weise habe die Linke jene „Definitionsmacht im Diskurs“ errungen, die von der Rechten rituell beschworen wird, um die eigenen ideologischen Leerformeln als intellektuelle „Tabubrüche“ verkaufen zu können. Ihre negative Zwangsfixieriung auf eine in diesem Land angeblich herrschende totalitäre Linke zeigt, wie ähnlich das Weltbild der Neuen Rechten dem ihrer liebsten Feinde ist. Wie weiland F. J. Strauß für die Linken als ewiges Menetekel eines neuen Faschismus herhalten mußte, so werden Alt-Linke wie Gremliza von der Neuen Rechten aus der politischen Gruft gezerrt (und mit den liberalkonservativen Verrätern Geißler und Süssmuth kurzgeschlossen), um die drohende Abschaffung demokratischer Redefreiheit im Namen einer antifaschistischen „politicial correctness“ an die Wand malen zu können.

Und doch haben diese grotesk verklemmten Versuche der Neuen Rechten, die Linke zu plagiieren, einen ernstzunehmenden politischen Hintergrund. Der Versuch, den 8. Mai symbolisch umzudeuten, entspricht präzise der strategischen Logik der Rechtskonservativen. Die antifaschistische Empörung führt in die Irre: Im Falle des 8. Mai geht es nicht so sehr um eine Uminterpretation des Nationalsozialismus, sondern der Westintegration der Nachkriegs-Bundesrepublik. Die Westbindung Deutschlands zu desavouieren und zu lockern ist das mittelfristige Hauptziel der Neuen Rechten. In ihr sieht sie ein Oktroi der Sieger des Zweiten Weltkrieges, und die deutsche „Vergangenheitsbewältigung“ (in rechten Kreisen auch kurz und verächtlich „VB“ genannt) gilt ihr als ein vor allem von den Amerikanern erzwungenes Demütigungsritual der Deutschen. Der Versuch, mit uneindeutigen Formulierungen die Teilung Deutschlands und die Entstehung des stalinistischen Unterdrückungssystems in Ostdeutschland mit dem 8. Mai als dessen Ursache in Verbindung zu bringen, zielt darauf ab, den grundlegenden Unterschied zwischen den westlichen Siegermächten und dem sowjetischen Unterdrückungsregime zu verwischen. Der Aufruf insinuiert, an dem Nachkriegsunrecht gegen Deutsche seien nicht nur die Stalinisten, sondern irgendwie auch die Westalliierten schuld. Er artikuliert in geübter taktischer Verschleierung das stärker werdende Ressentiment gegen das westliche Ausland, das seine deutschen Lakaien fünfzig Jahre lang zu Schuldeingeständnissen habe erpressen können. Mit solcher Fremdbestimmung soll jetzt Schluß sein. Sei erst einmal die deutsche Westintegration aufgeweicht, so das Kalkül, werde der Weg frei für die Verabschiedung des Universalismus der westlichen Nachkriegswertegemeinschaft und die Installierung eines „Multipolaren Pluriversums“ – womit neurechte Historiker wie Karlheinz Weißmann die Rückkehr zum Vorrang nationaler Interessenpolitik und zum Konzept ihres Klassikers Carl Schmitt von der deutschen Vormachtstellung im „Großraum Europa“ meinen. Richard Herzinger

Der Autor, Germanist, arbeitet an der FU.