■ Absurde Szenen in einem New Yorker Mordprozeß
: Amok gegen den Rest der Welt

New York (taz) – „Und hat der Attentäter auf Sie geschossen?“, fragt der Verteidiger den Zeugen John Forni vor Gericht. „Ja, im selben Moment, als Sie die Waffe auf mich richteten, drückten Sie auch schon ab“, antwortet Forni und hat Mühe, dabei nicht die Beherrschung zu verlieren. Der Mann, der ihn im Gerichtssaal zum Hergang des Massakers in der Long Island Eisenbahn befragt, hat dort vor 13 Monaten fünfmal auf ihn geschossen. Nur durch ein Wunder hat der 36jährige Kassierer das Blutbad überlebt.

Solche und andere absurde Szenen ereigneten sich in den letzten drei Wochen im Gerichtssaal von Mineola, einem kleinen Städtchen in der Nähe von New York, wo in Sachen Long-Island-Railroad-Schießerei verhandelt wird. Der Angeklagte Colin Ferguson hat juristischen Beistand abgelehnt und statt dessen entschieden, sich selbst zu verteidigen. Für die Opfer des Massakers bedeutete das Kreuzverhöre mit ihrem Peiniger. Und nicht nur das: Sie mußten sich als Lügner beschimpfen lassen und aberwitzige Verschwörungstheorien mitanhören.

Am Nachmittag des 7. Dezember 1993 hatte ein Mann in einem vollbesetzten Vorortzug plötzlich eine Pistole gezogen und wild um sich geschossen. Der Attentäter konnte schließlich von einigen Fahrgästen überwältigt werden, als er damit beschäftigt war, seine halbautomatische Pistole nachzuladen. Vorher hatte er 30 Schüsse abgegeben und dabei sechs Menschen getötet und 19 weitere zum Teil schwer verletzt. Über 20 Zeugen haben damals gesehen, daß Ferguson der Schütze war, der durch die Sitzreihen spazierte und einen Fahrgast nach dem anderen ins Visier nahm, darunter auch eine schwangere Frau und ein Vater mit seinem Sohn. Es war seine Waffe mit seinen Fingerabdrücken darauf, die am Tatort sichergestellt wurde, und in seiner Jackentasche fand sich sogar ein Zettel mit „Gründen“ für die Tat: Haß auf Weiße, Asiaten und „Onkel-Tom- Schwarze“. Ferguson selbst ist ein 37jähriger schwarzer Einwanderer aus Jamaika. Trotz der erdrückenden Beweislast beteuerte er hartnäckig, daß die ganze Sache eine Verwechslung sei, daß das FBI hinter allem steckt, daß es einen Doppelgänger mit seinem Namen gebe und daß alle Zeugen beeinflußt wären.

Mit seinen Akteuren – junge, unschuldige Opfer, tränennasse Angehörige, ein ehrgeiziger Staatsanwalt und ein verrückter Täter mit jeder Menge Blut an den Händen, der jedoch standhaft seine Unschuld beteuert – hat der Long-Island-Mordprozeß eigentlich genau die richtige Besetzung für ein klassisches amerikanisches Gerichtsdrama. Daß der Fall außerhalb New Yorks dennoch relativ wenig Beachtung fand, lag wohl vor allem daran, daß auf der anderen Seite des Kontinents ein prominenter Ex-Footballspieler schon seit acht Monaten die gesamte Medienöffentlichkeit für sich beansprucht.

Doch auch Ferguson hatte seine Fangemeinde, die täglich in den Gerichtssaal strömte und doch zumindest die Live-Übertragungen im Fernsehen mitverfolgte. Denn eine Kamera war der Prozeß dem amerikanischen Court TV doch wert. Schließlich hatte die Ferguson-Story gegenüber dem O.-J.- Simpson-Trial einen großen Vorteil: Der Hauptdarsteller spricht. Zuweilen erzählte er sogar derart kafkaeske Stories, daß man sich in einem absurden Theaterstück wähnte. Der Staatsanwalt hätte nur deshalb 93 Anklagepunkte gegen seinen Mandanten, sprich ihn selbst, zusammengetragen, weil das Massaker im Jahre 1993 stattgefunden hat, erklärte Ferguson beispielsweise. Ein anderes Mal bestand er darauf, Bill Clinton in den Zeugenstand zu berufen. Der Richter lehnte dies jedoch ebenso ab wie die Anhörung eines Zeugen, der angeblich Kenntnis darüber hat, daß dem Angeklagten im Auftrag der Regierung ein Microchip ins Gehirn einoperiert wurde. Und auch Jeffrey Dahmer kam zu posthumen Ehren: Die Ermordung des Serienkillers mit der Vorliebe für frisches Männerfleisch sei Teil des FBI-Komplotts gegen ihn, sagte Ferguson im Gerichtssaal. Und keiner lachte.

„An der einen Küste vertritt eine ganze Armee von teuren Anwälten einen geistig gesunden Mann, der des Mordes angeklagt ist, an der anderen Küste verteidigt sich einer, an dessen Verstand man ernsthaft zweifeln kann, selbst“, schrieb die New York Times und bestätigt damit die Vorbehalte einiger kritischer Prozeßbeobachter, die Ferguson für geistig verwirrt und deshalb nur für bedingt verhandlungsfähig halten. Allein die Tatsache, daß er als juristischer Laie in einem Mordprozeß keinem Anwalt vertraut, halten viele für ein deutliches Zeichen von Realitätsverlust. Andererseits beherrscht Ferguson – Court TV und „L.A. Law“ sei Dank – zumindest die äußere Form des Verteidigens erstaunlich gut. Wie die prominenten Fernsehanwälte erhob er „Einspruch“, bemängelte „beeinflussende Fragen“ oder forderte mit bedeutungsschwerer Mine „Akteneinsicht“. Doch gerade die Ernsthaftigkeit seines Bemühens, gepaart mit der offensichtlichen Unkenntnis der tatsächlichen Rechtslage, verlieh der ganzen Situation einen gespenstischen Zug. „Es ist der reine Hohn“, sagt der New Yorker Gerichtspsychologe Timothy J. White, der den Prozeß verfolgt hat. „Wozu ist unser Justizsystem verkommen, daß jemand, der offensichtlich psychotisch und verblendet ist, darin eine Rolle übernehmen kann – in diesem Fall die des Anwalts?“ Über den Ausgang des Verfahrens waren sich hingegen alle Beobachter schnell einig: hundert Prozent schuldig!

Ohne die juristischen Winkelzüge einer erfahrenen Advokaten-Armee wie im Falle O.J. Simpson war der sensationelle Long-Island-Railroad-Prozeß denn auch überraschend kurz. Ferguson hatte keinen einzigen Zeugen aufzubieten und auch sonst kein stichhaltiges Beweismaterial für seine Verschwörungstheorie. Sein schlichtes Schlußplädoyer: „Rehabilitieren Sie Mr. Ferguson ... er hat gelitten.“

Am vergangenen Freitag zog sich die Jury dann zur Beratung zurück. Neun Stunden später verkündeten sie ihr einstimmiges Urteil: Colin Ferguson ist schuldig des sechsfachen Mordes und 19fachen versuchten Mordes. Die Angehörigen der Opfer, die verbissen im Gerichtssaal ausgeharrt hatten, brachen in Freudentaumel aus, der Angeklagte schwieg. Das Strafmaß, etwa 200 Jahre Gefängnis ohne Bewährung, wird erst am 20. März verkündet. Derweil hat Ferguson bei Richter Donald Belfi schon mal höflich angefragt, ob er für sein Widerspruchsverfahren vielleicht doch einen Pflichtverteidiger bekommen könnte. Ute Thon