Form und Norm: Für immer Punkt möchte ich sein

Ob als Schrifttype oder als bloßer Pfennigabsatz: Der Punkt hüpft durch die gesamte Kulturgeschichte, allein und im Kollektiv.

Taugt nicht als Differenziator: der Punkt, hier im Plural. Bild: tinvo/photocase

Fragte man einen Typografen – und sei es der begnadetste und erfahrenste unter ihnen –, eine Schrifttype nur anhand ihres Punktes (ASCII-Wert dezimal 46, hexadezimal 2E) zu identifizieren, er müsste kapitulieren. Von fancy Spezialfonts einmal abgesehen, ist der Punkt in allen Schriften gleich. Er ist der ausgefüllte Kreis, die elementarste, universellste und perfekteste aller Formen.

In runder Abgeschlossenheit und Selbstidentität taugt der Punkt nicht als Differenziator – und ist doch, wie die „Mitte“ in der Politik – heiß umkämpfter Mittelgrund und Battleground semiotischer Abgrenzungsmanöver in Kunst, Design und Marketing. Denn im Plural, in Scharen auftretend als Punktewolke, bietet er hinreichend Varianzmöglichkeiten, um damit Distinktion zu produzieren.

Als „Polka Dots“, regelmäßig im Raster angeordnete Punkte, meist mit starkem Farbkontrast zum Zwischenraum, ziehen sich Punkte hüpfend durch die jüngere Kulturgeschichte. Wobei die Polka-Referenz ominös ist, allenfalls über den synästhetischen Link nachgerade infantiler (Über-)Simplizität, die Assoziationen von Hupen, Tschingderassa und 4-to-the-floor zu erklären. Man denke an den „Itsy Bitsy Teeny Weeny Yellow Polka Dot Bikini“. Traditionell taucht das Muster, passend zum Carnevalesken, eher im lateinamerikanischen Flamenco-Tanz auf.

In der Malerei steht mit dem Pointillismus der Punkt am Anfang der Abstraktion. Den Nullpunkt der Kunst markiert allerdings 1913 kein schwarzer Punkt, sondern das schwarze Quadrat von Malewitsch, das die durchaus vorhandenen Punkte bei den Suprematisten, Konstruktivisten und Dadaisten jener Zeit achtkantig in den Schatten stellt.

Radikaler Neuanfänger

Erst nach dem Zweiten Weltkrieg wird durch die Düsseldorfer Künstlergruppe Zero der Punkt in der Kunst wieder groß geschrieben, kam er doch der Null, dem Nulldurchlauf, dem radikalen Neuanfang symbolisch am nächsten.

Mit dem Flammenwerfer brachte Otto Piene große und kleine Punkte, einzelne und in Dutzenden auf Leinwand. Und bei Lothar Quinte wurde der Punkt zur auratisch solarisierten Corona aufgeblasen, die uns – wie das bedrohliche Auge von HAL in „2001“ – in einen soghaften Bann zieht.

Und auch bei Jasper Johns, dem Wegbereiter der Pop Art, wird in seinem „Target with Four Faces“ der Punkt zum „Bull’s Eye“, dem Zentrum der Zielscheibe, und verweist auf das Logo der Royal Air Force, dem roten Punkt mit konzentrischem blauen Ring.

Die Verbindung aus Kunst und Marketing haben wir damit schon fast erreicht. Zum Markenzeichen des Marketinggenies Damien Hirst nämlich wurde die Kombination aus Polka Dots und Gerhard Richters Zufallsfarben ein ikonischer No-Brainer, aber irgendjemand musste ihn halt bringen. Der Generation-X-Erfinder und legitime Warhol-Erbe Douglas Coupland versuchte, mit trockenem Deadpan-Humor noch eins draufzusetzen, indem er die Hirst-Punkte appropriierte. Erfolgreich war er damit bislang nicht.

Anders als die „Königin der Punkte“: die Japanerin Yayoi Kusama. Sie verteilt ihre Polka-Dot-Ornamentik im Fliegenpilz-Farbcode über Tische, Betten, Stühle, Wände und Böden. Kein Wunder, dass eine In-Your-Face-Marke wie Louis Vuitton darauf abfährt und ihre weltweiten Flagshipstores von der Künstlerin knallbunt punktieren ließ.

Nicht nur Gestaltungsoption, sondern Sinnbild und Desiderat all dessen, was eine Marke sein kann, stellt der Punkt im Branding dar. Dort ist er ein „fokaler Punkt“ (Thomas Schelling), der einen magischen Magnetismus ausstrahlt und die Menschen anzieht wie der Katastrophen-Sammelpunkt beim Erdbeben.

Der Allesrepräsentierer

Die Marke Blaupunkt zum Beispiel entstand 1924 als eingetragenes Warenzeichen der Ideal AG in Hildesheim. Auch wenn Blaupunkt heute im Consumer-Segment keine Rolle mehr spielt, erfreut sie sich in Befragungen immer noch großer Bekanntheit, wenn es um „Qualität“ und „Autoradio“ geht.

Das weltweit bekannteste und prägnanteste Einpunktlogo ist aber neben der japanischen Flagge bis heute die stilisierte Zielscheibe von Lucky Strike. Der Punkt ist auf Vorder- und Rückseite, sodass er in jedem Fall ins Auge springt, egal welche Seite der Packung oben liegt.

So markant der Punkt als Logo ist, so besetzt ist er allerdings auch. Wer heute als Designer noch mit einem Einpunktlogo in Magenta, Cerulian oder Vantablack um die Ecke kommt, wird dafür keinen Red-Dot-Design-Award ernten.

Eher lässt sich mit der Auflösung des Punktes spielen, wie es zuletzt der Berliner Grafiker Raban Ruddigkeit mit seiner 18-Eintel-Plakatkampagne für die Transmediale 2011 demonstriert hat: Viertelpunkte in den Ecken der A0s, die immer wieder neu kombiniert werden.

Im Stachel steckt das Gift

Auch der legendäre Clip über die Apple-Designphilosophie macht vor, was man allein mit schwarzweißen Punkten gestalterisch versinnbildlichen kann: Vom kleinsten Detail bis zum großen Ganzen können sie alles repräsentieren. Man kann das nachlesen, etwa beim Architekturtheoretiker Christopher Alexander, der die Unterscheidung von Zentrum und Peripherie an den Anfang seiner „Pattern Language“ stellt. Praktisch wird es in der chinesischen Reformpolitik, die, weit entfernt von der reinen Planwirtschaft, daraus besteht, modellhafte Experimente im Erfolgsfall „vom Punkt in die Fläche“ auszurollen.

Dramaturgisch kommt an dieser Stelle eine „Pointe“ (französisch für Spitze, aus spätlateinisch: puncta = Stich), gemäß dem lateinischen „In cauda venum“: Im Stachel steckt das Gift. Also dann: Wenn der Punkt ein Problem hat, dann, dass er meist als zu simpel empfunden wird, was den eindimensionalen Menschen aus Marketing und Consulting, den Simplifizierern und Komplexitätsreduktionisten gern auf die Butterseite schlägt.

Selten provozieren Bulletpoints auf Powerpoint-Charts die Reaktion beim Zuhörer: „Da hat er oder sie aber einen Punkt!“. Wie in der Singularität eines schwarzen Lochs – in der Physik ein ausdehnungsloses Etwas von ungeheuerlicher Gravitation – werden die Dinge unterkomplex, opak und ominös, wenn sie allzu sehr auf den Punkt verdichtet werden.

Trotz alledem steht der Punkt, wenn es um Markanz und Durchdringen im medialen Rauschen der Aufmerksamkeitsökonomie geht, am Anfang, im Zentrum und am Ende: Er ist Standpunkt und Spielbein, er ist Pfennigabsatz und Peeptoe. Punkrock oder Punktrock.

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