Workshop in orgasmischer Meditation: Pussy streicheln

Von der Schwierigkeit, Scham zu überwinden: Unser Autor wurde bei einem Workshop angeleitet, wie er eine Frau am besten zum Höhepunkt bringt.

Pussy sollen die Teilnehmer sagen – die Vulva sei schließlich wie eine Katze zu streicheln. Bild: dpa

BERLIN taz | Eine meiner frühsten Erinnerungen ist die an den Penis meines Vaters. Ein kurzer Zylinder, dunkel, sehr viel breiter als lang. Unachtsam war ich in das Badezimmer getapst, während sich mein Vater vom Duschen abtrocknete. Vergilbte Fotos zeigen, wie wir davor häufig miteinander gebadet haben müssen: ihn untersetzt und mit langsam zurückgehendem Haaransatz, mich mit einem Bart aus Schaum und güldenem Pisspott-Schnitt. Erinnern kann ich mich nur noch an den Penis unter der Dusche. Und das schamvolle Erlebnis, zum ersten Mal aktiv in eine Intimsphäre eingedrungen zu sein.

Und ich erinnere mich, wie damals die Kriminalpolizei bei uns anrief und mit meinem Bruder sprechen wollte. Sein Lehrer stand unter Verdacht, Mittelstufenschüler sexuell belästigt zu haben, darunter auch meinen Bruder. Bis heute haben wir in der Familie nicht darüber gesprochen.

Der Lehrer wurde später verurteilt. Mein Bruder entwickelte aus der Erfahrung heraus einen Hang zum Lautsein, geriet in Schlägereien, klaute Fahrräder. Häufiger wurde er nachts mit einem blauen Auge oder einer gebrochenen Nase aufgegriffen. Ich selbst reagierte mit Akten der Selbstgeißelung. Jedes Mal nach dem Masturbieren schlug ich mich. Mit flacher Hand auf den Bauch. Ein lästiges Ritual, das ich mir erst im Abiturientenalter wieder abgewöhnen konnte.

Auch an diesem Nachmittag in München wird diese Geschichte unausgesprochen bleiben, und doch schwebt sie im Hintergrund. Beine schlingen sich verkrampft umeinander. Wangen erröten, als Elisa Klüver fragt: „Was erhofft ihr euch von diesem Seminar?“ Zusammen mit Selina Jung leitet Klüver einen Einführungskurs in die orgasmische Meditation – OMen.

Vor einem Jahr hat sie den Eurovision Song Contest gewonnen, mit Bart und Abendkleid. Heute ist sie so etwas wie die Botschafterin Europas. Eine Annäherung an Conchita Wurst lesen Sie in der taz.am wochenende vom 23./24. Mai 2015. Schwaben meets Silicon Valley. Eine Woche tourt Baden-Württembergs Ministerpräsident Kretschmann mit einer Delegation durch Kalifornien – Peter Unfried hat sie zu den Weltmarktführern der Zukunft begleitet. Außerdem: Der Saxofonist Kamasi Washington brilliert mit seinem Debutalbum „The Epic“. Wir haben ihn in Los Angeles getroffen. Und: Eine Einführung in die orgasmische Meditation. Am Kiosk, eKiosk oder gleich im praktischen Wochenendabo.

Kindheitsneurosen überwinden

Insgesamt sieben Frauen und Männer zwischen zwanzig und sechzig haben sich in dem kleinen Seminarraum versammelt, sie antworten auf Elisas Frage. Stefan hat zu Hause eine Partnerin und will sein Beziehungsleben intensivieren. „Danke“, haucht Elisa sacht. Ein bärtiger Mittzwanziger namens Flo war bereits auf einigen Treffen, er will seinen Kontakt zur Community stärken. „Danke.“ Markus ist Journalist und sucht nach einem Weg, seine Kindheitsneurosen zu überwinden. „Danke.“

Auf einem Abstelltisch ein halbleeres Gefäß mit Erdbeeren, eine Wasserkaraffe. „Hundert Jahre Einsamkeit“, „Wahrsagen mit Karten“ und „Mit PI zum Erfolg“ nebeneinander in einem Bücherregal. Die beiden Kursleiterinnen blättern durch ihre Papierstapel. Neben ihnen lehnt ein noch unbeschriftetes Flipchart an der Wand – in diesem Raum finden normalerweise Managertrainings statt. In ihren Sommeroutfits erinnern die zwei tatsächlich eher an BWL-Studentinnen vor einem Referat als an Liebesgurus. „Coach“ lautet die Eigenbezeichnung.

Hinter den Seminaren steht die Firma OneTaste aus San Francisco. Seit 2001 bemüht sich diese bei ihren Kunden um ein bewussteres Erleben der eigenen Sexualität. „Den Orgasmus kultivieren“ nennt das Elisa Klüver, „wir wollen Frauen, die aktiv werden. Wir wollen Frauen zeigen, dass sie sich nicht zu schämen brauchen. Und wir wollen Männern ermöglichen, sich auf diese Frauen einzulassen.“ Ein bisschen mehr als 100 Euro kostet das pro Kursteilnehmer, im Zentrum stehen Masturbations-Sessions.

Fühlen, nicht gucken

Eine Präsentation beginnt. Rock und Slip hat Elisa bereits ausgezogen, als sie sich mit gespreizten Beinen auf die Yogamatte legt. Neben ihr sitzt Assistent Christoph auf einem Kissen. Die Zuschauer haben einen Sitzkreis gebildet. Interessiert lehnen sie sich nach vorne, Arme abgestützt auf den Oberschenkeln. „Es geht ums Fühlen, nicht ums Sehen“, weist Co-Coach Selina die Gruppe zurecht. Manche lassen ihre Blicke schweifen. Flo, der bärtige Mittzwanziger, hat seine Augen geschlossen. Der Mund von Carina, einer der beiden Frauen der Gruppe, ist zu einem anhaltenden Lächeln erstarrt.

„Ich berühre jetzt deine Pussy“, kündigt Christoph an – eine feste Formulierung, die am Anfang jeder OM-Session steht. Seine Worte klingen gedämpft wie Elisas „Danke“. Mit fast unsichtbaren Bewegungen seines linken Zeigefingers und der übergebeugten Körperhaltungen eines Zahnarztes beginnt er über die Klitoris von Elisa zu streichen. Nur bestimmte Bewegungen sind zulässig und nur bestimmte Bereiche sollen stimuliert werden. Abgesehen von seinen Schuhen bleibt Christoph angezogen. Außerdem hat er ein Paar medizinischer Einweghandschuhe übergestreift. „Das trennt die Erfahrung zusätzlich vom Sex“, wird vorab erklärt.

Es wird warm. Es wird gestöhnt. Fünfzehn Minuten später erklingt ein Gong aus Selinas Smartphone. Mit einer Stoppuhr-App kontrolliert sie die Einhaltung des festgelegten Zeitfensters. Wieder die gleiche Begründung: „Das soll die Erfahrung vom Sex trennen.“ Die Meditation endet. Das Paar erzählt von seinen Eindrücken. Elisa will ein warmes Ziehen in ihren Schultern gespürt haben, Christoph ein elektrisierendes Kribbeln, zuerst in der linken Hand, dann hinauf bis zum Nacken. Jemand öffnet ein Fenster, der Raum ist voller Lustschweiß.

„Powered by Orgasm“

Im begleitenden Vortrag geht es um Streichbewegungen und Klitorisquadranten. Geklärt wird auch, warum man Pussy sagen sollte, wenn man eigentlich Vulva meint. „Am ehesten ist die Erfahrung mit dem Streicheln einer Katze zu vergleichen“, sagt Elisa vor allem an die fünf Männer in der Runde gerichtet. OMen ist auf die Klitoris ausgerichtet. Es gehe nicht um Höhepunkte oder sexuelle Gefallen, sondern um das orgasmische Erlebnis für beide Partner: „Niemand streichelt eine Katze, weil er dafür eine Gegenleistung erwartet.“

Das Internet kennt viele solcher Angebote: Tantrakurse, orgasmisches Yoga. In Berlin gibt es eine ganze Seminarreihe zum Thema Selbstfindung durch anale Stimulation. „Wir wollen nichts interpretieren“, grenzt Selina Jung das OMen-Programm ab, „es gibt kein Wörterbuch für unsere Wahrnehmungen“, keine spirituellen Konstrukte, keine Lichtbälle weißer Energie. „Reduktion ist ein Grundpfeiler des OMen“, erläutert Elisa das Konzept. In Zentrum stehe der Körper, der Partner und der berauschende Kontrollverlust, während man sich diesem öffnet.

Tausende US-Amerikaner sind Teil der Community. Auf der offiziellen Website gibt es OneTaste-Gleitcreme zu kaufen, OneTaste-Kissensets, OneTaste-T-Shirts. Aufschrift: „Powered by Orgasm“. In San Francisco wurde ein eigenes Center eingerichtet.

Auf den Kopf getätschelt

„Jetzt kommt der inoffizielle Teil des Kurses“ verkündet Elisa. Die blauen Vorhänge vor dem großen Fenster zur Straße werden zugezogen. Stefan, auf den zu Hause die Freundin wartet, verabschiedet sich. Drei Kissennester werden auf dem Boden eingerichtet. Pärchen werden gebildet: „Möchtest du mit mir OMen?“ Die Formulierung wurde in den letzten Stunden bis zur Emotionslosigkeit wiederholt: „Möchtest du mit mir OMen?“, fragt mich Carina, die Frau mit dem erstarrten Lächeln.

Sie zieht ihre Hose aus und spreizt ihre Schenkel. Wir imitieren, was uns vorgemacht wurde: Handschuhe, Körperhaltung, „ich berühre jetzt deine Pussy“, Schweiß, Stöhnen. Elisa rutscht auf ihren Knien heran und überprüft unsere Leistung. „Langsamer, kürzere Bewegungen, winkel den Finger mehr an.“ Ihre Stimme hat keine Lautstärke. Wahrscheinlich flüstert sie. Es fühlt sich an wie geschrien.

Die fünfzehn Minuten enden, die Latexhandschuhe werden abgestreift. Andere Paare umarmen sich, rücken Schulter an Schulter, während sie ihre Eindrücke austauschen. Carina wird von mir einmal auf den Kopf getätschelt, unbeholfen, mit flacher Hand. Sie lacht. Ich falle zu einer fötalen Kugel zusammen. Der Nagel meines linken Daumens bohrt sich schmerzhaft tief in den Zeigefinger.

Der Vollständigket halber

Da ist es wieder, das alte Ritual aus Jugendzeiten. Zwischen Pussy und sterilisierter Handbekleidung suche ich nach der versprochenen Authentizität. Dann streicht auch Carina mir kurz über das Haar. „Es gab da diesen Moment“, fängt sie an die Erfahrung zu beschreiben. Eine weitere von diesen antrainierten Formulierungen. „Da habe ich gespürt, wie ich im Boden versunken bin. Eine Erdung zwischen meinen Wirbeln und der Yogamatte.“ Mit den Fingern streicht sie um ihre Zehen.

Man verabschiedet sich. Draußen auf der Straße starrt ein übergroßer Hasenkopf aus einem Schaukasten. Ein Kostüm – der restliche Körper hängt abgetrennt daneben. In blauen Buchstaben ist darüber das Wort „Brautmoden“ zu lesen.

Carina und ich stehen uns gegenüber. In diesem Moment will ich nichts dringender, als mit ihr die Nacht zu verbringen. Vielleicht auch nur der Vollständigkeit halber. Es wird über Münchener Strip-Clubs geredet, über zu kurze Ladenöffnungszeiten. Ich kann ihr fast nicht in die Augen schauen. Dann trennen wir uns und ich vergesse ihr Gesicht.

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